Muammar al-Gaddafi

Vor genau 13 Jahren, am 17. März 2011, besiegelte eine UN-Resolution den Untergang Libyens.

Der Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten des britischen Unterhauses legte im Jahr 2016 einen Bericht vor, in dem die Inkompetenz und Ignoranz der britischen Regierung und ihrer Geheimdienste beim Nato-Krieg gegen Libyen offengelegt wurde. Der Bericht befasste sich sowohl mit den wahren Gründen für den Regime Change in Libyen als auch mit dessen verheerenden Folgen. 

Die Aufgabe des Ausschusses war es, die Intervention und den Zusammenbruch des libyschen Staates zu untersuchen sowie künftige politische Optionen des Vereinigten Königreichs zu eruieren.

Der Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten ist ein vom britischen Unterhaus eingesetztes Gremium zur Prüfung von Ausgaben, Verwaltung und Politik des Außen- und Commonwealth-Amtes und der damit verbundenen öffentlichen Einrichtungen.

Der Bericht des britischen Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten von 2016 [1]

Im März 2011 führten Großbritannien und Frankreich mit der Unterstützung der USA die ‚internationale Gemeinschaft‘ bei der Intervention in Libyen an. Offiziell sollte die Intervention dazu dienen, Zivilisten vor Übergriffen zu schützen. Fünf Jahre später, 2016, kam der Bericht des britischen Unterhausausschusses zu dem Ergebnis, dass „diese Politik nicht von einer exakten Geheimdienstarbeit geprägt war. Beispielsweise überschätzte die Regierung fälschlicherweise die Bedrohung der Zivilisten und sie sahen nicht, dass ein signifikanter Teil der Rebellen aus Islamisten bestand. Im Sommer 2011 wurde die begrenzte >Intervention zum Schutz von Zivilisten< zur opportunistischen Politik des Regimewechsels mit militärischen Mitteln ausgeweitet. […] Das Ergebnis war der politische und ökonomische Kollaps, Kämpfe zwischen Milizen und zwischen Stämmen, eine humanitäre und eine Migrantenkrise, umfangreiche Menschenrechtsverletzungen, die Verbreitung des Waffenarsenals von Gaddafi in der ganzen Region und das Anwachsen des IS in Nordafrika.“

Die Spezialistin für Libyen am Royal United Services Institut, Alison Pargeter, äußerte sich in dem Bericht schockiert über den Mangel an Kenntnis „über die historische und regionale Komplexität in Libyen“. Es sei nie gefragt worden, wieso der Aufstand in Bengasi und nicht in der Hauptstadt Tripolis seinen Anfang nahm und die Bedeutung der Stämme und Regionen sei unberücksichtigt geblieben.

In dem Bericht musste eingestanden werden, dass die Luftangriffe der Nato die Bedrohung durch islamistische Extremisten verschlimmert habe. Der Aufstand der ‚Rebellen‘ wäre wohl erfolglos geblieben, wenn er keine militärische Unterstützung durch das Ausland erfahren hätte. Medien wie Al-Jazeera und Al-Arabiya hätten unbewiesene Gerüchte über Gaddafi und die libysche Regierung verbreitet. Die Nato-Bombardierungen hätten Libyen in eine humanitäre Katastrophe gestürzt, tausende Menschen getötet und hunderttausende vertrieben, wodurch Libyen aus dem Land mit dem höchsten Lebensstandard in Afrika zu einem vom Krieg zerrütteten failed state wurde.

Der Bericht stellte fest: „Trotz seiner Rhetorik wurde die Annahme, Muammar Gaddafi hätte das Massaker an Zivilisten in Bengasi angeordnet, durch die verfügbaren Beweise nicht belegt.“ Gaddafi habe im Februar eine emotionale Rede gehalten, in der er sagte, „es sind nur sehr wenige“, „es sind ein paar Terroristen“, und dabei auf al-Kaida-Führer verwiesen, die er als „Ratten“ bezeichnete. Seine Aussage, er werde „Libyen Stück für Stück, Haus für Haus, Wohnung für Wohnung, Gasse für Gasse“ von diesen ‚Rebellen‘ säubern, sei in einem geschmacklos abgemischten Video eines israelischen Reporters weltweit verbreitet worden. Daneben sei Gaddafi vom britischen Außenminister William Hague falsch zitiert worden, der behauptet hatte, Gaddafi habe damit gedroht, „von Haus zu Haus, von Zimmer zu Zimmer zu gehen, um sich an der Bevölkerung von Bengasi zu rächen“. Hague: „Viele Leute werden sterben.“

Gaddafi habe sich in der Tat – wie andere Führer der arabischen Welt auch – rhetorisch häufig drastisch ausgedrückt. Dies habe aber im Gegensatz zu seinem tatsächlich überaus vorsichtigen militärischen Vorgehen gestanden, mit dem er Opfer unter Zivilisten zu vermeiden suchte. Dies hatte vor dem Ausschuss der Nahost- und Nordafrika-Experte am King’s College in London, George Joffé, bestätigt. Und Alison Pargeter bemerkte: „…oppositionelle Emigranten haben die Unruhen in Libyen ausgenutzt, indem sie die Bedrohung der Zivilbevölkerung überbewerteten und die westlichen Mächte zur Intervention ermunterten“.

Der Bericht wies darauf hin, dass vor Kriegsbeginn keine belastbaren Fakten und Informationen vorlagen: „Laut Berichten beschrieben US-Geheimdienstbeamte die Intervention als eine nachrichtendienstliche Entscheidung light.“ [2] Dies stand im krassen Gegensatz zu den schrillen Behauptungen, die vor den Luftangriffen in den westlichen Medien verbreitet wurden. So meldete sich zum Beispiel Soliman Buchigir, ein im Westen lebender libyscher Oppositioneller, mit der Behauptung zu Wort, dass – sollte Gaddafi Bengasi zurückerobern – „es ein echtes Blutbad geben wird, ein Massaker, so wie wir es in Ruanda gesehen haben“.

Im Gegensatz dazu standen die Erkenntnisse des Ausschusses, die besagen, dass Gaddafis Truppen keine Zivilisten angegriffen haben. Am 17. März 2011, zwei Tage vor Beginn der Nato-Luftangriffe, wandte sich Gaddafi an die ‚Rebellen‘ in Bengasi: „Werft eure Waffen weg, genau wie eure Brüder in Adschdabija und anderswo. Sie haben ihre Waffen niedergelegt und sind in Sicherheit. Wir haben sie nicht verfolgt“. Der Ausschuss kam zu dem Schluss: „Die Diskrepanz zwischen männlichen und weiblichen Verlusten deutete darauf hin, dass das Gaddafi-Regime in einem Bürgerkrieg gezielt gegen männliche Kämpfer vorging und nicht wahllos Zivilisten angriff.“ Alison Pargeter bestätigte, dass es keine wirklichen Beweise gab, dass Gaddafi „ein Massaker der eigenen Bevölkerung begehen wollte“.

Kriegsgründe

Doch warum betrieben Frankreich, die USA und Großbritannien mit solcher Vehemenz den Krieg gegen Libyen? Laut dem Bericht waren die Hauptgründe für die von Frankreich vorangetriebene Intervention in erster Linie Gaddafis „fast unerschöpfliche finanzielle Mittel“ und seine Pläne, eine alternative Währung zum Französischen Franc (CFA) in Afrika einzuführen und damit Frankreichs Einfluss in Nordafrika zu schwächen. Auch werden in dem Bericht die E-Mails von Hillary Clinton angeführt, die ihr von ihrem Mitarbeiter Sidney Blumenthal geschickt worden waren, und die 2016 vom US-State Department im Rahmen des Freedom of Information Act freigegeben wurden.  Blumenthal nennt darin Personen, die Zugang zu den Beratern von Saif al-Islam hatten und als Quellen dienten: „Gaddafi hält 143 Tonnen Gold und ähnlich viel Silber“. Diesen Schatz wollte Gaddafi dazu verwenden, „eine panafrikanische Währung auf der Grundlage des libyschen Gold-Dinars zu etablieren“. Eine neue Währung „sollte den frankophonen afrikanischen Ländern Afrikas eine Alternative zum Französischen Franc bieten.“ Blumenthal an Clinton: „Französische Geheimdienstbeamte entdeckten diesen Plan kurz nach Beginn der aktuellen Rebellion. Das war einer der Gründe, die Sarkozys Entscheidung beeinflussten, Frankreich zum Angriff auf Libyen zu verpflichten.“

Für die französischen Geheimdienstoffiziere hätten fünf Gründe den Ausschlag für die Libyen-Intervention gegeben: Frankreich wollte einen größeren Anteil an der Ausbeute des libyschen Erdöls. Der französische Einfluss in Nordafrika sollte erhöht werden. Frankreich erhoffte sich eine Verbesserung seiner innenpolitischen Situation. Das französische Militär sollte seine Stellung in der Welt behaupten. Paris wollte sich nicht von Tripolis als dominierende Macht im frankophonen Afrika verdrängen lassen. Und Sarkozy glaubte, dass die Kriegsentscheidung seine Beliebtheit bei den nächsten Wahlen erhöhen würde. [3]

Dementsprechend versuchte der damalige französische Außenminister Alain Juppé im Februar und März 2011 Druck zu machen. Vor dem UN-Sicherheitsrat behauptete er, um die Zivilbevölkerung zu schützen, bleibe „nur sehr wenig Zeit – vielleicht nur Stunden“. Diese Aussage erwies sich laut dem britischen Ausschussbericht als maßlos übertrieben. George Joffé meinte, dass die Entscheidungen von Präsident Sarkozy und seiner Administration unter dem Einfluss von libyschen Emigranten getroffen worden sei, die enge Beziehungen zum intellektuellen Establishment in Frankreich hatten.

Frankreich übernahm die Führungsrolle im NATO-Krieg gegen Libyen, Großbritannien unter Cameron schloss sich an. Bereits zu Kriegsbeginn, im März 2011, erkannte Sarkozy den von den ‚Rebellen‘ installierten National Transitional Council als die legitime Regierung Libyens an.

Die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats

Die US-Regierung war anfangs hinsichtlich einer Intervention gespalten, doch die damalige Außenministerin Hillary Clinton arbeitete auf eine aggressive militärische Intervention hin. Es heißt in dem Bericht: „Die Vereinigten Staaten waren maßgeblich daran beteiligt, die Bestimmungen der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats über die Einführung einer Flugverbotszone hinaus auf die Genehmigung >aller erforderlicher Maßnahmen< zum Schutz der Zivilbevölkerung auszudehnen.“ Die Basis für die Zerstörung des kompletten Staatswesens war gelegt: „In der Praxis führte das zur Einführung einer >No-Drive-Zone< und zur angeblichen Berechtigung, das gesamte Befehls- und Kommunikationsnetz der libyschen Regierung anzugreifen.“

Die Resolution 1973 hatten Frankreich, Großbritannien und der Libanon mit Unterstützung der USA im UN-Sicherheitsrat eingebracht. Für die Resolution stimmten am 17. März 2011 Bosnien-Herzegowina, Kolumbien, Gabun, Libanon, Nigeria, Portugal, Südafrika und die ständigen Vertreter im Sicherheitsrat Frankreich, Großbritannien und die USA. Brasilien, Indien, Deutschland und die ständigen Mitglieder Russland und China enthielten sich. [4] Kein Land hatte den Mut, gegen die Resolution zu stimmen, obwohl mit dem Zusatz „alle erforderlichen Maßnahmen“ dem Missbrauch der Resolution 1973 Tür und Tor geöffnet waren.

Hätte sich die Nato-Intervention an die Vorgabe der UN, Zivilisten zu schützen, gehalten, wäre der Nato-Einsatz laut dem Ausschussbericht schon nach zwei Tagen beendet gewesen. Denn bereits am 20. März 2011 hatten sich die libyschen Regierungstruppen etwa 40 Meilen (60 km) aus Bengasi zurückgezogen. [5] Der Bericht stellte klar, dass es nie um den Schutz der Zivilbevölkerung ging, sondern dass von Anfang an das Ziel der Intervention ein Regimewechsel in Libyen war. Während der damalige Premierminister David Cameron noch am 21. März 2011 dem House of Commons versicherte, dass mit der Intervention kein Regimewechsel herbeigeführt werden soll, [6] unterzeichnete er bereits im April 2011 gemeinsam mit Barack Obama und Nicolas Sarcozy ein Schreiben, in dem als Ziel der Intervention eine „Zukunft ohne Gaddafi“ festgelegt wurde. [7]

Die Rolle der Medien

Im Ausschussbericht kam auch Amnesty International zu Wort, das feststellte, dass „die Berichterstattung in vielen westlichen Medien von Anfang an eine sehr einseitige Sichtweise des Geschehens vermittelte. Die Protestbewegung wurde als völlig friedlich dargestellt, während die Sicherheitskräfte des Regimes unbewaffnete Demonstranten massakrieren“. AI konnte auch keine Beweise dafür finden, dass Viagra an die Soldaten ausgegeben und Frauen vergewaltigt wurden, so wie von es von westlichen Medien propagiert worden war.

Die Libyenexpertin Alison Pargeter bestätigte, „dass die arabischen Medien eine sehr wichtige Rolle spielten“. Insbesondere hätten sich Al-Jazeera und Al-Arabiya bei der Verbreitung unwahrerer Horrorstorys über Gaddafi und die libysche Regierung hervorgetan.  

Verfolgung und Ermordung schwarzer Libyer durch die ‚Rebellen‘

Gaddafi wurde von der damaligen Opposition unterstellt, Söldner einzusetzen. Allerdings betrachtete die sogenannte Opposition neben Migranten auch alle dunkelhäutigen libyschen Staatsangehörigen, die aus dem subsaharischen Afrika stammten, als solche. Es wurde mit falschen Nachrichten die Angst geschürt, dass die von Gaddafi geholten Afrikaner libysche Familien töten würden. Tatsächlich trat genau das Gegenteil ein, wie AP (Associated Press) im September 2011 berichtete: „Rebellenstreitkräfte und bewaffnete Zivilisten treiben Tausende schwarze Libyer und Migranten aus Subsahara-Afrika zusammen“. Sie alle beteuerten, keine Söldner zu sein, sondern in Libyen zu arbeiten. Dies schützte sie nicht davor, dass die gegen sie verübten Verbrechen immer extremer wurden. 2012 erschienen Berichte, nach denen schwarze Libyer in Käfige gesteckt und gezwungen wurden, die grüne Flagge der Gaddafi-Anhänger zu essen. 2013 machte Human Rights Watch Menschenrechtsverletzungen gegen die schwarzhäutigen 40.000 Bewohner der libyschen Stadt Tawerga bekannt, die verhaftet, gefoltert und ermordet wurden. Wer überlebte, wurde aus der Stadt vertrieben. Bis heute sind diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht vor dem Internationale Strafgerichtshof zur Verhandlung gekommen.

Friedliche Lösung unerwünscht

Der Ausschussbericht zitierte einen Artikel der Washington Times, aus dem hervorgeht, dass Saif al-Islam einen Waffenstillstand mit den Generalstabschefs der USA aushandeln wollte. Auf Intervention von Hillary Clinton musste das Pentagon diese Gespräche einstellen. Clinton verstieg sich zu verbalen Ausfällen gegen Gaddafi, den sie als „Kreatur, die kein Gewissen hat und jeden bedrohen wird“ bezeichnete. Er werde schreckliche Dinge tun, wenn man ihn nicht stoppe. Die Briten zogen mit und setzten auf eine rein militärische Lösung, anstatt auf Diplomatie und Verhandlungen.

Dabei hatte vorher Tony Blair bestätigt, dass Saif al-Islam Gaddafi „die beste, wenn nicht sogar die einzige Zukunftsperspektive für einen politischen Wechsel“ in Libyen sei. Saif al-Islam hatte die beiden späteren Mitglieder des Übergangsrats, Mahmoud Dschibril und Abdul Dschalil, mit maßgeblichen Aufgaben zur Reformierung Libyens betraut. Dschibril, ein Mann Katars, leitete unter Gaddafi den Nationalen Wirtschaftlichen Entwicklungsfonds und Dschalil war unter Gaddafi Justizminister und sollte Justizreformen erarbeiten.

Bei Beginn der Unruhen hatte Tony Blair den amtierenden britischen Außenminister Lord Hague angerufen und eine Verhandlungslösung der Krise vorgeschlagen, worauf Lord Hague meinte, es sei unklug, einen internen Coup mit der Gaddafi-Administration auszuhandeln, wenn der Nachfolger nicht besser als der Vorgänger wäre.

Der Ausschussbericht zog daraus die Schlussfolgerung, dass niemals die Möglichkeit einer Verhandlungslösung ernsthaft in Betracht gezogen wurde, obwohl damit die politischen, militärischen und humanitären Kosten der Intervention und des Regimewechsels vermeidbar gewesen wären.

Tony Blair berichtete, dass er im Februar 2011 mit Muammar al-Gaddafi gesprochen habe. Blair habe darauf gedrungen, dass Oberst Gaddafi die Gewalt beenden und zurücktreten müsse. Der Untersuchungsausschuss sah keine Anzeichen dafür, dass der damalige britische Regierungschef David Cameron die Kontakte von Tony Blair genutzt habe, um die Gesprächskanäle, über die auch Hillary Clinton informiert gewesen sei, offen zu halten. Dies zeige eindeutig, dass politische Gespräche möglich gewesen wären, aber nicht genutzt wurden. Es sei stattdessen ausschließlich auf eine militärische Intervention gesetzt worden.

Das Erstarken islamistischer Extremisten

Der Bericht stellte fest, dass nach dem Zusammenbruch der libyschen Regierung und ihrer Sicherheitskräfte extremistisch-islamistische Gruppen das entstandene Sicherheitsvakuum nutzten. Laut dem Ausschussbericht spielten „ab Februar 2011 militante islamistische Milizen eine entscheidende Rolle bei der Rebellion“. Und weiter: „Libysche Verbindungen zu transnationalen militanten Extremistengruppen waren vor 2011 bekannt, weil viele Libyer am Irak-Aufstand und in Afghanistan bei al-Kaida beteiligt waren.“ [8] Als der damalige Chef des britischen Verteidigungsstabs, Lord Richards, gefragt wurde, ob er gewusst habe, dass Abdelhakim Belhadsch und andere al-Kaida-Mitglieder, die an der ‚Rebellion‘ im März 2011 beteiligt waren, Verbindungen zur berüchtigten Libyan Islamic Fighting Group (LIFG) pflegten, antwortete Lord Richards, dass dies eine „Grauzone“ gewesen sei.

Als Folge des Nato-Kriegs gegen Libyen fielen Waffen- und Munitionsvorräte in die Hände von dschihadistischen Milizen und wurden nach Nord- und Westafrika sowie in den Nahen Osten geschmuggelt. Eine UNO-Expertengruppe fand Waffen aus libyschen Beständen in Algerien, dem Tschad, Ägypten, Gaza, Mali, im Niger, Tunesien und Syrien. [9] Libysche Waffen sollen sogar bei Boko Haram in Nigeria gelandet sein. [10] Es gab in Libyen 20.000 tragbare Luftabwehrsysteme, sogenannte Manpads. Da nur eine Person genügt, um Flugzeuge vom Himmel zu holen, stellen sie eine große Gefahr auch für die zivile Luftfahrt dar. [11]

Diese Verbreitung von Kriegswaffen verstärkte die militärischen Möglichkeiten terroristischer Gruppen erheblich

Der Bericht stellte fest, dass – obwohl für Libyen ein Waffenembargo verhängt worden war –dieses von der internationalen Gemeinschaft in Beziehung auf Waffenlieferungen an die ‚Rebellen‘ ignoriert wurde. Neben Waffen wurden die Aufständischen auch durch Geheimdienstinformationen und Personal von Großbritannien, Frankreich, der Türkei, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützt. Der Chef des britischen Verteidigungsstabs, David Richards, gab sogar zu, dass Großbritannien mit „ein paar eingebetteten Leuten“ bei den ‚Rebellen‘ am Boden vertreten war. Dazu lieferte Katar im Geheimen französische Panzerabwehrraketen an bevorzugte ‚Rebellengruppen‘, das heißt an Mitglieder der Moslembruderschaft.

Failed State Libyen

Der Ausschussbericht erklärt, dass „die Kombination von Luftüberlegenheit mit der Lieferung von Waffen, Geheimdienstinformationen und Personal (aus dem Ausland) an die Rebellen die militärische Niederlage des Gaddafi-Regimes garantierten“.

Der Zusammenbruch des Landes sei nicht allein durch die Ermordung Gaddafis ausgelöst worden, sondern das gesamte Sicherheits- und Rechtssystem des Landes sei kollabiert, was „Spaltung, Gesetzlosigkeit und Gewalt zur Folge“ hatte. Der damalige britische Botschafter in Libyen, Sir Asquith, erklärte vor dem Ausschuss: „Das Innen- und das Verteidigungsministerium waren in der Hand von Milizen. Der Führer der bewaffneten Kräfte, Jussef al-Mangusch, wollte keine Armee bilden. Er wollte lieber das Geld dem Libya Shield, also Milizen, zukommen lassen. Genauso verfuhr sein Nachfolger, al-Abedi.“ Libya Shield beschreibt der Bericht als eine militante islamistische Miliz, die 2013 für die Ermordung von Anti-Miliz-Demonstranten in Tripolis und Bengasi verantwortlich war.

In dem Bericht werden die Vereinten Nationen für den Zusammenbruch der Sicherheitslage mitverantwortlich gemacht. Den Fehler, den Libyern selbst das Sicherheitskonzept zu überlassen, sollte man nicht noch einmal begehen. Es heißt in einer Schlussfolgerung: „…die Vereinten Nationen könnten gefragt werden, in Kürze eine ähnliche Mission in Syrien, im Jemen oder im Irak durchzuführen.“

Der Bericht bedauerte, dass nach den ersten Wahlen Personen wie Mahmud Dschibril oder Abdul Dschalil, Politiker, die den westlichen Wunschvorstellungen entsprachen, von der politischen Bühne verschwanden. Der Bericht zieht daraus die Schlussfolgerung, dass Wahlen viel zu schnell durchgeführt wurden.

Das Unvermögen, das libysche Schlamassel in den folgenden Jahren in den Griff zu bekommen, wurde in dem Ausschussbericht den Geheimdiensten und deren mangelnder Aufklärung zur Last gelegt. Sir Asquith äußerte sich dementsprechend: „Die Planer der Whitehall wussten nicht, was im Land vor sich ging.“ „Die Pläne wurden unterhöhlt durch das immer wieder kehrende Unverständnis und in Rechnungstellung der Stammesstruktur Libyens.“ „Die Stabilisierungspläne waren unrealistisch und zu theoretisch.“

Dem kann man nur hinzufügen, dass dies bis heute so geblieben ist.

Résumé

Bezüglich der Folgen des Nato-Krieges gegen Libyen stellt der Ausschussbericht zusammenfassend fest: „Das Ergebnis war der politische und wirtschaftliche Zusammenbruch, Krieg zwischen Milizen und Stämmen, humanitäre Krisen und Migrantenkrisen, weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen, die Verbreitung von Waffen des Gaddafi-Regimes in der Region und das Wachstum des IS in Nordafrika.“

Weiter heißt es: „Im April 2016 beschrieb der US-Präsident Barack Obama Libyen nach der Intervention als ‚Scheiß-Show‘. Es fällt schwer, dieser prägnanten Einschätzung nicht zuzustimmen.“

 

Nachtrag

Dieser Bericht des Auswärtigen Ausschusses des britischen Unterhauses legt nur die Spitze des Eisberges frei. Inwieweit beispielsweise der MI6 daran beteiligt war, al-Kaida-Leute von Großbritannien nach Libyen zu überführen, wie das mit den Waffenlieferungen für die ‚Rebellen‘ und die Verschiffung der Waffen nach Syrien unter Beteiligung der CIA war, welche Rolle die Umstürze in Libyens Nachbarstaaten Ägypten und Tunesien als Vorbereitung für den Fall Libyens spielten, wird nicht hinterfragt. Der Bericht unterstellt den britischen Geheimdiensten Naivität und Inkompetenz. Tatsächlich dürften die Briten in Absprache mit den USA ganz genau gewusst haben, welche Lügen sie mit welchem Ziel verbreiten und zu welchen verheerenden Folgen ihr Nato-Krieg in Libyen führen könnte und sie haben dies billigend in Kauf genommen.

Erschreckend ist, dass man bereits bei der Abfassung dieses Berichts im Jahr 2016 das Drehbuch für Syrien und den Jemen schrieb – und die gleichen Ergebnisse erwartete, wie sie in Libyen eingetreten waren. Es wurde angeregt, Wahlen soweit wie nötig zu verzögern, um die eigenen Interessen mit willfährigen Politikern durchzusetzen und diese an die Macht zu bringen beziehungsweise dort zu halten. Dies sollte mit Hilfe der Vereinten Nationen geschehen, von denen man zu Recht annahm, sie würden voll umfänglich im Sinne des Westens handeln.

13 Jahre nach dem Nato-Krieg ist es für den Westen immer noch zu früh, in Libyen demokratische Wahlen  zuzulassen.

 

[1] https://publications.parliament.uk/pa/cm201617/cmselect/cmfaff/119/11902.htm
[2] https://www.washingtontimes.com/news/2015/jan/29/hillary-clinton-libya-war-genocide-narrative-rejec/
[3] https://www.gatestoneinstitute.org/1983/france-libya-attack
[4] http://www.un.org/press/en/2011/sc10200.doc.htm
[5] http://edition.cnn.com/2011/WORLD/africa/03/21/libya.civil.war/index.html?hpt=T1&iref=BN1
[6] HC Deb, 21 March 2011, col. 703 [Commons Chamber]
[7] http://www.bbc.com/news/world-africa-13090646
[8] http://www.nytimes.com/2011/03/14/opinion/14douthat.html?_r=0
[9] www.securitycouncilreport.org/atf/cf/%7B65BFCF9B-6D27-4E9C-8CD3-CF6E4FF96FF9%7D/s_2015_128.pdf
[10] www.publications.parliament.uk/pa/cm201314/cmselect/cmfaff/86/86.pdf
[11] Man denke an den Absturz eines Passagierflugzeugs am 24.7.2014 im Norden Malis, das auf dem Weg von Burkina Faso nach Algerien war. An Bord der Maschine von Air Algérie waren 116 Menschen, darunter auch vier Deutsche. Siehe auch: www.freitag.de/autoren/gela/flugzeugabsturz-in-mali-war-es-ein-abschuss