Israel - Vom Opfer zum Täter zum OpferDer pad-Verlag liefert in der vorliegenden Broschüre „Israel – Vom Opfer zum Täter zum Opfer – ein Hin und Her seit 80 Jahren“ von Peter Hänseler und René Zittlau komprimierte Informationen zum Nahostkonflikt, ein Thema, das gerade die Welt erschüttert. Griffig und übersichtlich, fast schon lehrbuchhaft-didaktisch aufbereitet, werden geschichtliche Tatsachen und aktuelle Geschehnisse, auch an Hand umfangreichen Kartenmaterials, anschaulich dargestellt.

Die von den Autoren dargelegten Fakten überzeugen: Israel ging es niemals um ein friedliches Neben- und Miteinander von jüdischer und palästinensischer Bevölkerung, sondern seit seiner Staatsgründung war es Israels Ziel, die angestammte Bevölkerung mittels illegaler Siedlungspolitik und militärischem Vorgehen vollständig aus den palästinensischen Gebieten zu vertreiben, um ein Groß-Israel zu errichten. Offen scheint noch, ob es bei dem auch von Israelis skandierten Slogan, „from the river to the sea“ als „river“ der Jordan oder gar Euphrat oder Nil gemeint sind.

Die Wurzeln des Konflikts

Die Wurzeln der heutigen Nahostkriege reichen bis in das Jahr 1916 zurück, als sich Großbritannien und Frankreich im geheimen Sykes-Picot-Abkommen darüber einigten, wie nach einem Sieg im Ersten Weltkrieg die bis dahin unter Kontrolle des Osmanischen Reiches stehenden Gebiete zwischen den beiden Kolonialmächten aufzuteilen sind. Nachdem die Briten schon Ägypten beherrschten, wurde ihnen im April 1920 auf der Konferenz von Sanremo neben dem Irak auch Palästina als sogenannte Mandatsgebiete zugeschlagen. Während in dem berühmten Schreiben des britischen Außenministers Balfour an Baron Walter Rothschild 1917 noch von einer „Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ die Rede war, hieß es im Vertrag vom Sèvres vom August 1920 bereits „Heimatland“. Der Sèvres-Vertrag hielt allerdings auch fest, dass der angestammten palästinensischen Bevölkerung dadurch keine Nachteile entstehen dürften.
Den Briten lag daran, die Landbrücke zwischen den von ihnen beherrschten Ländern Ägypten und Irak unter ihrer Kontrolle zu behalten.

Zur Interessenvertretung der Juden wurde 1929 die Jewish Agency gegründet, die mit der britischen Kolonialbehörde die Einreisequoten und -bestimmungen für Juden in Palästina festlegte. Konflikte zwischen Arabern und jüdischen Emigranten waren weitgehend unbekannt.

Nach einer aufgrund der Hitlerischen Machtergreifung in den 1930er Jahren stark gestiegenen jüdischen Zuwanderung kam es zu einem blutig niedergeschlagenen arabischen Aufstand gegen die britische Kolonialmacht, bei dem die Unabhängigkeit gefordert worden war.

Noch im Jahr 1939 hieß es in einem Weißbuch der britischen Regierung, dass innerhalb von zehn Jahren ein unabhängiger Palästina-Staat errichtet werden soll, in dem „Araber und Juden gemeinsam in der Weise regieren, dass die wesentlichen Interessen jeder Gemeinschaft gesichert sind“.

Die noch heute gültige UNO-Resolution 191 forderte 1947 eine Zwei-Staaten-Lösung für die palästinensischen Gebiete.

Die Stimmung zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung kippte komplett, als 1948 einseitig der Staat Israel ausgerufen wurde. Ägypten, Saudi-Arabien, Transjordanien, der Libanon, Irak und Syrien erklärten dem neu deklarierten Staat Israel den Krieg, der in einem großen militärischen Sieg Israels und der Vertreibung eines Großteils der palästinensischen Bevölkerung sowie einer Vergrößerung des israelischen Territoriums um 23 Prozent endete.

Kriege mit arabischen Staaten, die Rolle des Libanon und Ägyptens

In den folgenden Kapiteln beschreiben die Autoren auch an anhand von umfangreichen Kartenmaterial, Tabellen und Originaldokumenten den Weg, den dieser Nahostkonflikt über die Suez-Krise (1956), den 6-Tage-Krieg (1967) und den Jom-Kippur-Krieg (1973) nahm, und der die Annexion der syrischen Golanhöhen, des palästinensischen Westjordanlandes sowie des Gazastreifens durch Israel zur Folge hatte. Eine weitere Vertreibung von Palästinensern, vor allem in die benachbarten Staaten Jordanien und Libanon, war die Folge.

Laut Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks für Palästina (UNRWA) gab es 2019 offiziell registriert 5,5 Millionen palästinensische Flüchtlinge.

Israel führte gegen den Libanon Krieg (1982), das fast eine halbe Million Palästinenser aufgenommen hatte, und wohin sich die PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) zurückgezogen hatte. Das israelische Militär zeichnete sich schon damals durch maßlose Gewalt und Brutalität aus, so beging es in zwei palästinensischen Flüchtlingslagern gut dokumentierte Massaker an der Zivilbevölkerung. Von der damaligen Zerschlagung der staatlichen Strukturen hat sich der Libanon bis heute nicht erholt. Als Israel erneut im Libanon intervenierte (2006), war ihm zwischenzeitlich in der vom Iran aufgebauten Hisbollah ein militärisch ebenbürtiger Gegner entstanden, so dass sich Israel nach einem für ihn verheerenden Kriegsverlauf unter Schock aus dem Libanon zurückziehen musste.

Bei der Gemengelage in der Nahostregion spielte und spielt Ägypten eine bedeutsame Rolle. Ägypten hatte  1952 unter Gamal Abdel Nasser die Republik ausgerufen, konnte über die Suez-Krise und den erzwungenen Abzug Großbritanniens sein Prestige erhöhen, schloss dann aber  unter Anwar as-Sadat, der sich politisch nach den USA orientierte, das Camp-David-Abkommen (1979) mit Israels damaligem Regierungschef Menachim Begin. Damit war die arabische Einheitsfront gegen Israel Geschichte.

Groß-Israel

Die Autoren erklären, wie sehr sich die Darstellung in der westlichen Welt von den realen Gegebenheiten im Palästinakonflikt unterscheiden. Im Westen werde die jüdische Bevölkerung Israels ausschließlich als Opfer des Holocausts gesehen, die sich gegen die scheinbar grundlose Gewalt der Palästinenser zur Wehr setzen muss. Daneben werde mittels einer Vermischung der Begriffe „Judentum“, „Zionismus“, „Antisemitismus“ und „Israel“ jede Kritik an der Politik Israels als Antisemitismus diskreditiert. Dazu komme ein schlechtes Gewissen gegenüber den in Europa an Juden begangenen Verbrechen. Dies alles habe zur Entstehung der heutigen katastrophalen Situation geführt.

Ausgeblendet werde dabei, dass es Israel, wie von etlichen Dokumenten belegt, von Anfang an um die Schaffung eines Groß-Israels ging, das sich auf religiöse Schriften und das Reich König Davids in der Zeit um 1000 v.Chr. beruft.

Dafür spricht auch, was in der Broschüre nicht erwähnt wird, dass es Israel bis heute versäumt hat, seine Grenzen festzulegen und sich eine Verfassung zu geben – beides Voraussetzungen für die Definition eines Staates.

Bezeichnend sind Tagebuchaufzeichnungen des Staatsgründers Ben Gurion von 1948, der schrieb: „Dann, wenn wir die Stärke der Arabischen Liga gebrochen und Amman bombardiert haben, könnten wir Transjordanien auslöschen; danach würde Syrien fallen. Und wenn Ägypten es immer noch wagen sollte, gegen uns Krieg zu führen, würden wir Port Said, Alexandria und Kairo bombardieren.“

Ben Gurion vermerkte auch: „Wir müssen alles tun, um sicher zu gehen, dass sie [die Palästinenser] niemals zurückkommen. … Die Alten werden sterben, die Jungen werden vergessen.“ – Bei letzterem dürfte sich Ben Gurion gewaltig geirrt haben.

Ausführlich gehen die Autoren auf die aggressive Wasserpolitik Israels ein, die als Mittel zur Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus ihren angestammten Gebieten eingesetzt wird, und den Palästinensern im wahrsten Sinne des Wortes das Wasser abgräbt.

Die Autoren resümieren, dass Israel gegen seine arabischen Nachbarstaaten und die Palästinenser stets nach dem gleichen Muster vorgeht: Es provoziert Konflikte, die anschließend ein brutales militärisches Vorgehen rechtfertigen sollen.

Innerpalästinensischer Widerstand

Wie in der Broschüre erläutert, wurde die Rolle des tragenden Widerstands innerhalb der palästinensischen Bevölkerung, den zunächst die PLO unter Yassir Arafat innehatte, von der Hamas abgelöst. Die Hamas wurde 1988 im Gazastreifen gegründet – mit Unterstützung Israels, das sich davon eine Schwächung der PLO versprach. Viele Palästinenser sahen das Oslo-Abkommen (1993) zwischen Israel und der PLO als Verrat an der palästinensischen Sache. Denn die PLO erkannte das Existenzrecht Israels an, ohne gleichzeitig einen palästinensischen Staat zugesprochen zu bekommen. Israel blieb de facto in den Palästinensergebieten Besatzungsmacht.

Eine von der PLO geführte Palästinensische Autonomiebehörde in den von Israel besetzten Gebieten verlor zusehends an Ansehen und wird heute nur noch „als Anhängsel israelischer Politik“ betrachtet, während die Hamas bei Wahlen im Jahr 2006 über 56 Prozent der Stimmen gewinnen konnte. Israel nahm dies zum Anlass, die Palästinensergebiete ökonomisch komplett abzuriegeln.

Die Hamas schuf neben einem politischen auch einen militärischen Zweig, die al-Kassam-Brigaden. Die von ihnen auf Israel zielenden Angriffe hatten stets massive israelische Vergeltungsschläge im Gazastreifen (2008, 2009, 2014) zur Folge.

Die Einstaatenlösung

Nach einer Analyse der Hamas-Charta von 2017 kommen die Autoren zu dem Schluss, dass darin Israel mit keinem Wort das Existenzrecht abgesprochen wird, sondern dass  sich die Charta inhaltlich an der UNO-Resolution 181 von 1948 orientiert, die immerhin als Grundlage für die Ausrufung des Staates Israels gilt, in der aber auch ein palästinensischer Staat gefordert wird. Die Hamas möchte inzwischen aber keine Zwei-Staaten-, sondern die Einstaatenlösung, die ein gleichberechtigtes Zusammenleben aller Religionen in einem Staat auf palästinensischem Gebiet vorsieht.

Wie die Autoren betonen, hätte die Gründung eines souveränen Staates Palästina, ob bereits 1948 oder zumindest 1993, tatsächlich „die Basis für eine künftige friedvolle Koexistenz von Israel und Palästinensern sein können“.

Zweifellos ist Israel ein Apartheits- und Besatzungsregime, das der nichtjüdischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten ein menschenwürdiges Leben unmöglich macht, und in dessen Gefängnissen tausende rechtlose Palästinenser, darunter auch viele Kinder, einsitzen. Es sei laut den Autoren ein „Recht der Besetzten, sich als Unterdrückte gegen fremde Gewalt auf eigenem Grund und Boden zu wehren“, während eine Besatzungsmacht „kein Recht auf Selbstverteidigung gegen die Besetzten“ hat.

Der 7. Oktober 2023

Ein letztes Kapitel der Broschüre beschäftigt sich mit den Vorgängen um den 7. Oktober 2023, die ohne Berücksichtigung der Geschichte nicht zu begreifen sind. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Berichterstattung in den westlichen Medien einer „faktenbasierten Prüfung nicht standhält“. Sie berufen sich auf unabhängige Medien und die israelische Zeitung Haaretz. Westliche Horrorstorys von enthaupteten Babys und vergewaltigten Frauen mussten selbst von den USA wieder einkassiert werden. Die unmenschliche Hannibal-Doktrin des israelischen Militärs, nach der Geiselnahmen unterbunden werden müssen, indem man sowohl eigene Soldaten als auch Zivilisten tötet, damit sie nicht in die Hände des Gegners fallen, kamen wohl auch am 7. Oktober zum Einsatz. Die Autoren zitieren den Oberst der israelischen Luftwaffe, Nof Erez, der sich wie folgt zu den Vorgängen im Kibbuz Beeri und auf dem Nova Rave-Musikfestival äußerte: „Was wir hier gesehen haben, war ein Massen-Hannibal“. Dies bedeutet nichts anderes, als dass die Mehrzahl der bestätigten 900 Opfer nicht durch die Hamas, sondern durch israelisches Militär zu Tode kamen.

Fazit

Im aktuellen Gaza-Krieg besteht die Gefahr, dass er der Kontrolle Israels und der USA entgleitet. Es könnte „aus einer humanitären Katastrophe ein veritabler regionaler Krieg entstehen“ – soweit die Befürchtung der Autoren.

Auch wenn nicht alle Aspekte des gegenwärtigen Gaza-Krieges berücksichtigt wurden, wie beispielsweise die Rolle Katars und der Moslembruderschaft, ist es das große Verdienst der Autoren, mittels eines geschichtlichen Abrisses der komplexen Faktenlage, die sich vom Ersten Weltkrieg bis zum 7. Oktober 2023 erstreckt, unabdingbares Basiswissen zu vermitteln, das dazu befähigt, sich ein auf Fakten beruhendes Urteil über den Israel-Palästina-Konflikt zu bilden, in dem es um das dem palästinensischen Volk zustehende, ihm aber verweigerte Recht auf nationale Selbstbestimmung geht.

 

Peter Hänseler / René Zittlau: „Israel – Vom Opfer zum Täter zum Opfer – ein Hin und Her seit 80 Jahren“, pad-Verlag, 2024, 80 Seiten, 8,00 EUR
Bestellungen bei:  pad-Verlag@gmx.net