Wahlen in Libyen? – Auflösungserscheinungen der ‚Einheitsregierung‘ – weitere Proteste

Wann wird in Libyen wieder gewählt?

+ 11.09.: Omar Boushrida, der auch an dem sogenannten Konsultationstreffen in Montreux teilnahm, hält die Verzögerung von Wahlen für einen schwerwiegender Fehler, da dann der Krieg erneut aufflammen könnte und die Legitimität der ‚Einheitsregierung‘ nicht mehr gegeben sei.
https://almarsad.co/en/2020/09/11/boushrida-delaying-elections-will-be-a-grave-mistake/

+ 11.09.: Parlamentspräsident Aguila Saleh nahm zu der schwierigen Phase, die Libyen gerade durchläuft, Stellung. Sowohl von externer als auch interner Seite bestehe Interesse, das Chaos im Land aufrechtzuerhalten und seinen Reichtum zu plündern.
Zu Wahlen äußerte sich Saleh wie folgt: „Es wird schnellstmöglich Gemeinderatswahlen geben und dann werden wir daran arbeiten, verfassungsgemäße und rechtliche Regeln für Präsidentschafts- und Parlamentswahlen festzulegen, die während des in der Erklärung von Kairo festgelegten Zeitraums abzuhalten sind.“
https://almarsad.co/en/2020/09/11/aguila-saleh-militia-control-of-the-cbl-and-gna-has-caused-libyas-financial-chaos/

‚Einheitsregierung‘ unter Beschuss

+ 12.09.: Suhail al-Gharyani, der Sohn des derzeit in Istanbul wohnhaften, radikal-islamistischen Geistlichen Sadiq -al-Gharyani, forderte diejenigen, die er als „Männer des Vulkan des Zorns“ bezeichnete, zu einem Protest gegen Fayez as-Sarradsch vor dem Präsidialrat auf. All diejenigen, die an der staatlichen Korruption beteiligt sind, müssten von ihren Posten entfernt werden. Er positionierte sich klar gegen die LNA und forderte, die Kämpfer des „Vulkan des Zorns“ in die neu zu schaffende Nationalgarde zu integrieren.
https://almarsad.co/en/2020/09/12/like-father-like-son-sadiq-al-gharianis-son-calls-for-a-stand-against-sarraj/

+ 13.09.: Abdurrahman asch-Schater, Mitglied des beratenden Hohen Staatsrates (HCS), sagte, dass innerhalb der Regierung Sarradsch immer mehr „politischer Schrott“ recycelt werde. „Wir hofften, dass as-Sarradsch ein Nationalheld sein wird; aber er hat sich stattdessen für den roten Teppich und den Dialog in den Hauptstädten und Palästen der Welt entschieden.“ Sarradsch weigere sich, „mit den Bürgern in Warteschlangen über Treibstoff, Liquidität und miserable Dienstleistungen zu sprechen. Die kommenden Tage werden hart für ihn werden.“
https://almarsad.co/en/2020/09/13/al-shater-the-coming-days-will-be-tough-for-sarraj/

Proteste und Demonstrationen

+ 12.09.: Die Proteste in Bengasi gegen schlechte Lebensbedingungen und die „komplette Abwesenheit von staatlichen Institutionen“ halten an. Es wurden Straßensperren errichtet und Autoreifen angezündet. Auch in Sebha fanden Demonstrationen statt.
https://twitter.com/ObservatoryLY/status/1304558713630601219

Der türkische Expansionismus

+ Ein Artikel von LMd erklärt anschaulich, um was es beim Streit zwischen Griechenland und der Türkei hinsichtlich der Ausschließlichen Wirtschaftszone im Mittelmeer wirklich geht, warum die Türkei das Seevölkerrecht in mehrfacher Hinsicht eklatant missachtet und wieso ihr Abkommen mit der libyschen ‚Einheitsregierung‘ von Sarradsch rechtlich nicht haltbar ist: „Zum Ersten verletzt die maritime Expedition den Unclos-Artikel 74. Der gebietet in Absatz 3, dass bei konkurrierenden AWZ-Ansprüchen die streitenden Parteien bis zu einer Übereinkunft (durch Vertrag oder Schiedsverfahren) den „Geist der Verständigung und Zusammenarbeit“ zu wahren haben, um eine „endgültige Übereinkunft nicht zu gefährden oder zu verhindern“. Gegen dieses Gebot verstößt die türkische Seite, indem sie explorative Aktivitäten in einer umstrittenen Zone betreibt. Die griechische Seite tut das in der von ihr beanspruchten AWZ (noch) nicht. Dass die griechische Kriegsmarine die türkischen Schiffe „beschattet“, ist durchaus rechtens, erst wenn sie türkische Schiffe behindern oder gar angreifen würde, wäre dies völkerrechtswidrig.

Zum Zweiten: Das Dokument, auf das die Türkei ihren Anspruch auf die fragliche AWZ stützt, ist eine Absprache mit einer dritten Partei, die griechische Rechte eklatant verletzt. Bei der bilateralen Vereinbarung zwischen Ankara und Tripolis vom 27. November 2019 ist bereits die Legitimation der Regierung as-Sarradsch zweifelhaft, die sich auf die türkische Militärhilfe stützt und die von Ankara zu der gemeinsamen AWZ-Vereinbarung erpresst wurde. Ein weiteres Manko ist, dass die Vereinbarung nur in Form eines „Memorandum of Understanding“ (MoU) abgeschlossen wurde. Der Grund: Ein MoU bedarf nicht der Ratifizierung durch das libysche Parlament, das in Opposition zur As-Sarradsch-Regierung steht.
Gravierender ist der dritte Punkt: Das türkisch-libysche MoU verstößt gleich doppelt gegen das Seevölkerrecht. Zum einen setzt das im Unclos-Artikel 74 vorgesehene AWZ-Abgrenzungsverfahren zwei Partner „mit gegenüberliegenden oder aneinander angrenzenden Küsten“ voraus. Das aber ist bei den Küstenstaaten Türkei und Libyen nicht der Fall. Der westlichste Punkt der türkischen Südküste liegt 250 Kilometer östlich der libyschen Ostgrenze mit Ägypten. Der „gegenüberliegende“ Staat, mit dem die Türkei eine AWZ-Abgrenzung im Seegebiet zwischen dem 28. und 32. Längengrad vereinbaren könnte, wäre also Ägypten, mit dem die Türkei aber seit der Machtergreifung des Sisi-Regimes verfeindet ist.“
„Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags stellt in einer am 17. Januar 2020 veröffentlichten „Seevölkerrechtlichen Bewertung der türkisch-libyschen Vereinbarung“ klar, dass „Inseln unabhängig von ihrer Größe die gleichen Seegebiete (Küstenmeer, Festlandsockel und AWZ) haben wie das Festland“. Demzufolge verstößt das türkisch-libysche MoU „gegen das völkergewohnheitsrechtliche Seerecht und erscheint im Ergebnis als unzulässiger Vertrag zulasten Dritter“.“
Zwar seien auch die Ansprüche Griechenlands überzogen, doch habe das Abkommen zur AWZ mit Ägypten die Regierung Mitsotakis diese Vereinbarung „als großen Erfolg gefeiert: Damit habe man das türkisch-libysche Abkommen „in den Mülleimer entsorgt“, wie es Außenminister Dendias formulierte. In der Tat hat das Kairoer Abkommen für Griechenland zwei wichtige Vorteile. Es stellt dem türkisch-libyschen MoU die Ansprüche Griechenlands und Ägyptens entgegen, die der IGH in einem Streit- oder Schiedsverfahren sehr wahrscheinlich bestätigen würde. Das gilt vor allem für den wichtigsten Punkt: den Anspruch der großen griechischen Inseln (Kreta, Karpathos, Rhodos) auf eine eigene AWZ, den Ankara und Tripolis völkerrechtswidrig bestreiten.“
https://monde-diplomatique.de/artikel/!5709141

+ LMd schreibt unter der Überschrift „Leichte Beute Libyen. Der am 21. August vereinbarte Waffenstillstand nährt Hoffnungen auf eine friedliche Lösung des Konflikts. Dafür bräuchte es allerdings ein Einlenken der diversen internationalen Akteure im Land.“
In dem Artikel heißt es: „Erdoğan ist also fest entschlossen, das türkische Einflussgebiet zu vergrößern. 2018 zählte die regierungsnahe Zeitung Yeni Akit zehn Länder auf, in denen türkische Soldaten stationiert sind, und verkündete unverhohlen: „Die Türkei kehrt in ihre osmanischen Gebiete zurück.“ Der expansionistische Drang wird auch durch die Reaktivierung des außenpolitischen Konzepts „Mavi Vatan“ (Blaue Heimat) deutlich, das der ehemalige Admiral Cem Gürdeniz 2006 entwickelt hatte. Es legt den Akzent nicht auf Diplomatie, sondern auf die rigorose Durchsetzung Einsatz syrischer Kämpfer, die zuvor bei der Invasion von Rojava mitgekämpft haben. Ankara liefert auch massive materielle Unterstützung, etwa durch die Installation von Flugabwehrraketensystemen NIM-23 Hawk und den Einsatz von Bayraktar-TB2-Drohnen, die nach Angaben von Beobachtern bei den Auseinandersetzungen mit Haftars LNA seit Frühjahr 2020 den entscheidenden Vorteil gebracht haben.“
Auch wenn dem letzten Satz des Artikels „an einem ändert auch der jüngste Waffenstillstand nichts: Über die Zukunft Libyens entscheiden vor allem internationale Akteure – das libysche Volk fragt niemand“ zuzustimmen ist, sind andere Teile fragwürdig, so wenn z.B. Russland die Schuld an einem „eingefrorenem Konflikt“ gegeben wird, wie wenn nicht die Nato und die EU daran Interesse hatten, dass die LNA in Tripolis nicht siegen wird und die Türkei militärisch interveniert.
https://monde-diplomatique.de/artikel/!5710488

Verschiedenes

+Die Informationsstelle Militarisierung (IMI)informiert auf 16 lesenswerten Seiten unter dem Titel „Frankreich und der Libyen-Konflikt“ über die „französischen Interessen an der Militär-Intervention“. Unter anderem wird folgendes Resümee gezogen: „Folgen des anhaltenden Krieges sind die Vertreibung hunderttausender Menschen aus ihrer Heimat und eine äußerst kritische humanitäre wie Menschenrechtslage in Libyen. Nach Angaben der UN gibt es in Libyen aktuell rund 350.000 Binnenflüchtlinge, welche durch den Bürgerkrieg zur Flucht innerhalb Libyens gezwungen sind. Zudem benötigen etwa 820.000 Menschen in Libyen humanitäre Hilfe, darunter 248.000 Kinder. […] Die Intervention in Libyen war also eine einzige Tragödie, wenn man nach rund neun Jahren später betrachtet, wie verheerend sich die Menschenrechtslage in Libyen entwickelt hat. Hier ernsthaft von einem „erfolgreichen“ NATO-Einsatz zu reden ist nicht nur zynisch, sondern auch schlichtweg falsch.“
https://www.imi-online.de/download/IMI-Studie-2020-4-Libyen.pdf

+ Fotografien aus Tripolis:
https://de.qantara.de/inhalt/buerger-fotografen-in-libyen-schoenheit-inmitten-von-krieg