Kolonialismus/Erster Weltkrieg. Ein geschichtlicher Abriss: türkisch-italienischer Krieg / Erster Weltkrieg / Ende des Osmanischen Reiches / libyscher Freiheitskampf / Verrat an der arabischen Welt
Der türkisch-italienische Krieg 1911/1912
Das Osmanische Reich, das über weite Gebiete des Nahen Ostens und Nordafrikas herrschte, musste bereits 1830 Algerien und 1881 Tunesien an Frankreich abtreten. Im Jahr 1882 verloren die Osmanen auch Ägypten, das an die Briten fiel.
Das Gebiet des heutigen Libyens befand sich noch unter osmanischer Herrschaft, auch wenn bereits Ende des 19. Jahrhunderts italienische Banken und Geschäftshäuser an der Küste von Tripolitanien und der Kyrenaika den Ton angaben.
In Italien, das 1871 als Monarchie vereint worden war, hegte König Viktor Emanuel III. den starken Wunsch, sich ebenfalls als Kolonialmacht zu behaupten und dem geschwächten Osmanischen Reich die Herrschaft über Libyen zu entreißen. Das Presseorgan der „Associazione nazionalista italiana“, Ideà Nazionale, schrieb über die kolonialen Ziele Italiens: „Der Nationalismus Italiens ist Afrikanismus“. Italien habe die heilige Mission zu erfüllen, die „hellenische Schönheit“ der Küstenstädte Libyens von türkischer Misswirtschaft zu befreien. Der „Bevölkerungsüberschuss“ solle dort abgesetzt werden und Italien benötige Kolonien, um für die wachsende Industrie genügend Rohstoffe zur Verfügung zu haben. Dies schaffe Arbeitsplätze und erleichtere den Handel. Und die Zeitung La Stampa schrieb 1911: „Libyen ist das gelobte Land, Italien von der Vorsehung zugesprochen.“
An diesem gewinnversprechenden, kolonialistischen Vorhaben war auch der Vatikan interessiert. Seine Banco di Roma hatte bereits Konzessionen für Bergwerke, Industrieanlagen und Schifffahrtsunternehmen in Libyen erworben und war somit für die dort erhofften goldenen italienischen Zeiten bestens gerüstet.
Am 28. September 1911 bezogen italienische Kriegsschiffe vor Tripolis unter dem Vorwand Stellung, dass sich die Osmanen zu sehr in ihre Handelsgeschäfte einmischten und dass italienische Staatsbürger in Tripolis und Bengasi zu schützen seien. Am 29. September 1911 erklärte Italien dem Osmanischen Reich den Krieg.
Zu dieser Zeit befanden sich nur noch wenige türkische Streitkräfte innerhalb Tripolis, so dass an eine Verteidigung nicht zu denken war. Am 4. Oktober rückte eine 34.000 Mann starke italienische Armee, unterstützt von Kriegsschiffen und Flugzeugen, gegen etwa 4.200 osmanische Soldaten vor. Durch Beschuss des nahe dem Hafen gelegenen Forts wurde auch ein Wohnviertel in Mitleidenschaft gezogen. Noch im Oktober 1911 fielen die Küstenstädte Tripolitaniens und der Kyrenaika.
In der Stadt Tripolis verbreiteten die Italiener die Bekanntmachung, dass die Rechte der Bevölkerung geachtet sowie die Religion als heilig angesehen und die Frauen geschützt würden. Im krassen Gegensatz dazu stand das tatsächliche Verhalten der Soldaten, die Angst und Schrecken verbreiteten, mordeten, vergewaltigten, plünderten und Moscheen entweihten. Zeuge dieser Vorgänge wurde der deutsche Ethnograph G. A. Krause, der in einem Interview mit dem Berliner Tageblatt einen italienischen Offizier zitierte, der die Morde der Invasoren an tausenden Zivilisten damit rechtfertigte, dass dieses brutale Vorgehen einen tiefen Eindruck bei den Arabern hinterlasse. An anderer Stelle schrieb G. A. Krause: „Die Eingeborenen verlangen Gewehre und Kanonen, um sich verteidigen zu können… Ein gewöhnlicher Arbeiter, den ich fragte, was sich die Leute erzählen, sagte nur: Die Italiener wollen das Land nehmen.“
In Italien formierte sich eine Gegenbewegung, die sich den kolonialen Kriegen widersetzte. Die Arbeiterbewegung war am Erstarken und ihre Führer riefen zu Demonstrationen und Streiks auf, um den Krieg in Libyen zu verhindern. Erfolglos.
Am 1. November 1911 schrieb Italien traurige Waffengeschichte: Es flog in Libyen den weltweit ersten Bombenangriff, bei dem drei je zwei Kilogramm schwere Bomben auf türkische Verbände abgeworfen wurden und zeigte damit umso mehr, dass der „kranke Mann am Bosporus“ den italienischen Streitkräften hoffnungslos unterlegen war.
In Istanbul war man nicht bereit, die von Italien eroberten libyschen Gebiete kampflos aufzugeben. Die politische Bewegung der Jungtürken bereitete sich unter der militärischen Führung von Enver Pascha darauf vor, von Ägypten aus einen Guerillakrieg gegen die Italiener zu führen, die im Osten Libyens die Städte Bengasi, Tobruk und Derna besetzt hatten. Enver konnte unter seiner Fahne auch arabische Kämpfer sammeln, die sich gegen die italienische Fremdherrschaft zur Wehr setzen wollten.
Der Guerillakrieg um die ostlibysche Stadt Derna war so erfolgreich, dass es den Italienern kaum möglich war, ihre Stellungen zu verlassen; an eine Eroberung des Hinterlands der Kyrenaika war nicht zu denken.
Die Italiener entwarfen den Plan, die Türken an anderen Orten so stark zu binden, dass sie gezwungen waren, ihre Soldaten aus Libyen abzuziehen. Sie brachten die Osmanen, die auch im Jemen und auf der Arabischen Halbinsel in Kämpfe verwickelt waren, beispielsweise im Hafen von Beirut oder auf dem Balkan so in die Defensive, dass sich diese genötigt sahen, am 18. Oktober 1912 einen Friedensvertrag mit Italien zu akzeptieren, in dem Libyen den Italienern zugesprochen wurde. Die europäischen Großmächte erkannten die neue italienische Kolonialmacht in Libyen an.
Der Kampf der Libyer um Freiheit
Nach dem Friedensschluss zwischen dem Osmanischen Reich und Italien fühlten sich die Libyer von den Osmanen im Stich gelassen und starteten daher einen eigenen Befreiungskampf, der in den Vororten von Tripolis begann und sich über das ganze Land verbreitete. G. A. Krause kann noch einen Bericht über den „Kampf der arabischen Zivilbevölkerung gegen die fremden Eroberer“ verfassen, bevor er das Land verlassen muss. Er schreibt: „Die Italiener sind nach den Worten ihrer Proklamation zu dem Zweck in die ihnen nicht gehörenden Länder gekommen, diese arme Bevölkerung zu >erlösen<, sie vom türkischen >Joch< zu befreien, aber diese >Erlösung< ist für nicht wenige der Tod, für alle Jammer und Angst, für viele Elend und Hunger.“ Um dieses Elend mit Zahlen zu belegen: Von den 300.000 Menschen, die 1911 in der Kyrenaika lebten, waren 1915 nur noch 120.000 am Leben.
Der Krieg, den Italien zunächst gegen die Türken in Libyen geführt hatte, wurde immer mehr zu einem Krieg Italiens gegen die ihre Unabhängigkeit anstrebenden Libyer, die sich unter Führung des Senussi-Ordens auf Guerillataktiken besannen. Als die Italiener endlich in den Fessan vorrückten und auch die südliche Stadt Mursuk besetzen konnten, stellte sie die Versorgung der Truppen über tausende Kilometer durch feindliches Wüstengebiet vor kaum lösbare Probleme. Allerdings war es ihnen gelungen, den libyschen Kämpfern vor allem im ersten Halbjahr 1914 herbe Verluste zuzufügen.
Währenddessen wurde die italienische Bevölkerung mit Kriegspropaganda überschüttet. Berichte, dass es den italienischen Truppen kaum gelang, echte Fortschritte bei der Eroberung Libyens zu machen, drangen kaum an die Öffentlichkeit.
Libyen und der Erste Weltkrieg: Der Senussi-Widerstand
In Europa brach im Herbst 1914 der Erste Weltkrieg aus. Auf der einen Seite kämpften die sogenannten Mittelmächte, d.h. das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn, gegen die Entente, zu denen zunächst Frankreich, Großbritannien und Russland gehörten. Nachdem 1915 Italien an der Seite der Entente in den Ersten Weltkrieg eingetreten war, wurde auch die Türkei wieder militärisch aktiv.
Die sich im Weltkrieg feindlich gegenüberstehenden Mächte versuchten jeweils, arabische Herrscher auf ihre Seite zu ziehen. Deutschland und Österreich-Ungarn hofften, dass nach dem Kriegseinritt der Türken der osmanische Sultan als höchste religiöse Instanz der islamischen Welt die Araber dazu bewegen könnte, dank der gemeinsamen Religion in einen Dschihad gegen ihre britische Besatzungsmacht zu ziehen. Tatsächlich rief der Sultan am 14. November 1914 mittels einer Fatwa einen heiligen Krieg aus. Allerdings gestaltete sich die Sache schwierig, da die Osmanen ebenso wie die Briten als Besatzungsmächte in der arabischen Welt verhasst waren und die national gesinnten Araber die Unabhängigkeit anstrebten.
Die Italiener waren in Libyen stark geschwächt, da sie sich des Guerillakrieges der Senussi-Bruderschaft unter der Führung von Sajid Ahmed asch-Scharif as-Senussi kaum erwehren konnten. Diese Situation wollten die Türken nutzen. Im Januar 1915 machte sich der Osmane Nuri Bey und der Iraker Dschafar al-Askari, der im osmanischen Heer diente, auf den Weg nach Libyen, wo sie im Februar nahe der ostlibyschen Stadt Tobruk an Land gingen und Kontakt mit dem Führer der Senussi-Bruderschaft, Sajid Ahmed, aufnahmen. Sajid Ahmed war allerdings im Westen der Kyrenaika auf das Wohlwollen der Briten in Ägypten, die ihm den Nachschub sperren konnten, und im Süden auf das der Franzosen angewiesen, die den Sudan besetzt hatten. Al-Askari schrieb später über den misstrauischen Sajid Ahmed: „… doch blieb es stets unmöglich, die düstere, argwöhnische und nervöse Grundstimmung im Herzen jenes Araberführers zu zerstreuen“.[1]
Das Osmanische Reich erhielt seinen Anspruch auf Tripolitanien und die Kyrenaika weiterhin aufrecht. Einige türkische Mannschaften hatten sich in die Kufra-Oasen im Südosten Libyens, eine Senussi-Hochburg, zurückgezogen und warteten dort auf eine Gelegenheit, von hier aus den Kampf gegen die Italiener wieder aufnehmen zu können. Unterstützung erhielten sie von den Deutschen, die ab Februar 1915 in Misrata eine Basis für deutsche U-Boote ausbauten und in der Stadt eine drahtlose Telegraphenstation sowie ein Materialdepot errichteten. Deutsche U-Boote, Gewehre, Munition und Goldmünzen wurden nach Misrata gebracht.
Im November 1915 begannen Senussi-Einheiten vom östlichen Libyen aus mit Angriffen auf britisches Militär und zwangen dieses, den ägyptischen Grenzposten as-Sallum aufzugeben. Schon bald schloss sich der libysche Stamm der Aulad Ali den Attacken auf britische Stützpunkte an. Ernsthaft in Bedrängnis brachte die Briten die Desertation einer Abteilung des Egyptian Camel Corps, die sich ebenso wie Offiziere und Soldaten der ägyptischen Küstenwache dem libyschen Heer anschlossen. Die Briten beorderten neue Soldaten auch aus Australien, Neuseeland und Indien nach Ägypten und starteten einen großen Angriff auf die arabischen Heere. Nach zwei Tagen gelang es ihnen, die Araber in die Flucht zu schlagen und als im Dezember 1915 ein zweiter Angriff auf eine Hauptabteilung des arabischen Heeres mit einer fürchterlichen Niederlage für die Libyer endete, war deren Kampfmoral erschöpft und die Briten konnten die Kontrolle über die libysch-ägyptische Grenze wieder herstellen.
Die ägyptische Mittelmeerküste blieb allerdings bis auf eine Entfernung von dreißig Kilometern zur britischen Garnisonsstadt Marsa Matruh unter Kontrolle der Senussi-Kämpfer. Das dortige Senussi-Heereslager Bir Tunis wurde von Dschafar al-Askari befehligt. Unterstützung erhielt die Senussi-Truppe, die auf über 5.000 Mann angewachsen war, von deutschen U-Booten, die vor der ägyptischen Küste kreuzten. Das ägyptische Volk schöpfte Hoffnung, von der verhassten britischen Kolonialherrschaft befreit zu werden.
Am 23. Januar 1916 griffen die Briten mit einer großen und bestens ausgerüsteten Streitmacht unter dem Oberkommando von John Maxwell bei strömenden Regen das Senussi-Heereslager an. Es kam zur Schlacht um Bir Tunis, bei der den Briten zwar die Eroberung des arabischen Lagers gelang, Sajid Ahmed und seine Männer aber entkommen konnten.
Sajid Ahmed und seine Senussi-Bruderschaft trennten sich von den osmanischen Befehlshabern Nuris und al-Askari und zogen gen Süden, um Oasen nahe des Niltals zu erobern. Nuris und al-Aksari wollten den Briten entlang der Mittelmeerküste zusetzen. Allerdings war ihnen kein Erfolg beschieden: Bei der Schlacht von Aqaqir gelang es den Briten nicht nur, Dschafar al-Askari gefangen zu nehmen, sondern sie konnten auch den Grenzort Sallum zurückerobern. Zwischen März 1916 und Februar 1917 stießen britische Truppen in den Süden vor und brachten die von den Senussi besetzten Oasen wieder in ihre Gewalt.
Für Sajid Ahmed blieb nur der Gang ins Exil nach Medina. Die Führung des Senussi-Ordens musste er an seinen Cousin Idris as-Senussi abtreten. Idris hatte bereits 1914 enge Kontakte zu den Engländern geknüpft und war in Kairo mit Lord Kitchener zusammengetroffen. Obwohl die militärische Lage für die libyschen Stämme vorteilhaft war, da sich inzwischen Italien im Krieg mit Österreich befand, begann Idris 1916 Verhandlungen mit Italien und unterzeichnete im April 1917 den Friedensvertrag von Bir Akrama. Damit besiegelte er die Kapitulation der Stämme, die sich entwaffnen lassen mussten. Libyens Küstenstreifen überließ Idris den Italienern, dafür wurde ihm die restliche Kyrenaika unterstellt und er bekam den vererbbaren Titel Hoheit verliehen.
Diese zwischen Idris und Italien getroffenen Vereinbarungen hatten bis 1923 Bestand, dann kündigte sie Italien auf und versuchte sich militärisch die Herrschaft über die gesamte Kyrenaika zu erkämpfen.
Italiens Kriegseintritt
In dem zu einem gewaltigen Kriegsschauplatz verkommenen Europa trat das Interesse für die afrikanischen Kolonien in den Hintergrund.
Italien hatte zunächst mit Deutschland und Österreich-Ungarn den Mittelmächten angehört. Als vor Kriegsbeginn Österreich-Ungarn den Serben ein Ultimatum stellte, deklarierte Italien dies als aggressiven Akt gegen Serbien, sah sich aus diesem Grund von seiner Bündnispflicht befreit und erklärte im Juli 1914 seine Neutralität, um im Mai 1915 Österreich-Ungarn den Krieg zu erklären und nun auf Seiten der Entente in den Krieg einzutreten. Italien versprach sich durch diesen Schritt territoriale Gewinne von Österreich.
Allerdings war Italien nicht gut für einen Krieg in Europa gerüstet. Zum einen war es vollauf mit der Widerstandsbewegung in Libyen beschäftigt, zum anderen war Italien in industrieller Hinsicht noch ein Entwicklungsland und weit entfernt von dem angestrebten Großmachtstatus. Um diesem Ziel näher zu kommen, erhöhte der Staat in seinem Haushalt 1912/13 den Anteil für Militärausgaben auf 47 Prozent seiner Wirtschaftsleistung. Der damalige italienische Ministerpräsident Antonio Salandra bezeichnete 1915 den Kriegseintritt an der Seite der Entente als „heiligen Egoismus“, um „solche Grenzen zu Lande und zur See zu erreichen, die nicht mehr angreifbar sind, und um für Italien den Status einer wirklichen Großmacht zu erringen.“ Gegen die Stimmen der Mehrheit im Parlament konnte Salandra mit seinem Außenminister Sidney Sonnino den Kriegseintritt durchsetzen. Auch Benito Mussolini, dem es sieben Jahre später gelang, die Macht in Italien an sich zu reißen, sprach sich schon damals für den Krieg aus.
In Libyen, wo sich der zersplitterte Widerstand neu formiert hatte, schlugen im Sirtebogen und im Fessan libysche Stämme italienische Garnisonen in die Flucht. Als Senussi-Truppen vom Süden her nach Norden vorstießen, zog ihnen von Misrata aus eine 4.000 Mann starke italienische Truppe entgegen, unterstützt von einer libyschen Hilfstruppe, die in der Mehrzahl aus Kämpfern von Misrata bestand. Vor Qaddabidscha kam es zum Kampf. Misrata hatte die Hoffnung gehegt, mit Hilfe der Italiener selbst die Macht in Libyen an sich reißen zu können. Als sich diese Hoffnung nicht zu erfüllen schien, wechselten sie während des Kampfes die Seiten und bereiteten den Italienern gemeinsam mit den Senussi-Truppen eine vernichtende Niederlage. Die Italiener hätten es wissen sollen. Hew Strachan schreibt in seinem Buch über den Ersten Weltkrieg: „Für viele Weiße verstand es sich von selbst, dass der Einsatz von aus der Kolonialbevölkerung rekrutierten Truppen gegen andere europäische Mächte langfristig nur zur Selbstzerstörung führen konnte […] Am Ende war denkbar, das Gewehr gegen einen weiteren Feind zu richten, […] gegen ihre eigenen weißen Herren…“.
Doch obwohl sich die Libyer, die gerade geeint gegen Italien gekämpft hatten, sich anschließend wieder in rivalisierende, sich gegenseitig bekämpfende Gruppen aufspalteten, war der Guerillakrieg gegen die Italiener, die sich im Jahr 1916 nur noch mühsam in Tripolis, Homs und Zuwara halten konnten, ein Erfolg.
Kriegsallianz zwischen Briten und Haschemiten
Lord Kitchener suchte einen Mann, der zu den arabischen Offizieren der osmanischen Armee Kontakt aufnehmen sollte, um sie zu bestechen und zu versuchen, einen arabischen Volksaufstand anzuzetteln. Fündig wurde er bei dem später legendären und unter dem Namen Lawrence von Arabien bekannten Oberst T. E. Lawrence, der sich im Frühjahr 1916 nach Ägypten einschiffte. Vor seiner Weiterreise in den Irak traf Lawrence in Kairo mit Kriegsgefangenen zusammen, die den nationalen arabischen Bewegungen nahestanden. In Basra suchte Lawrence deren Vordenker Suleiman Faidi auf, dem er erklärte, die Briten wollten den Arabern helfen, ihre Unabhängigkeit von der türkischen Herrschaft zu erlangen. Auch wenn die britische Regierung den Arabern für einen Volksaufstand im Irak Waffen und Gold anbot, konnte Lawrence diese nicht überzeugen: Die Briten waren wegen ihrer Kolonialherrschaft in Ägypten und Indien mehr als unbeliebt.
Den Briten zugeneigt war allerdings der haschemitische Scherif von Mekka, Hussein Ibn Ali, der sich nach der Machtübernahme der Jungtürken in Konstantinopel in der Gegnerschaft zum Osmanischen Reich sah. Hussein suchte den Kontakt zu britischen Regierungsvertretern in Ägypten, darunter Lord Kitchener.
Auch in Syrien und im Irak wurden von neu erwachten nationalen Bewegungen und deren Geheimgesellschaften Aufstände gegen die Herrschaft der Osmanen geplant.
Für die Briten war nach schweren militärischen Niederlagen gegen die Osmanen, vor allem auf der türkischen Gallipoli-Halbinsel, ein arabischer Aufstand zur Schwächung des Osmanischen Reichs überaus wichtig. Und so stimmten sie den im Damaskus-Protokoll mit Hussein festgehaltenen Vereinbarungen zu, welche die Grenzen eines von den Arabern beanspruchten, unabhängigen, Gebietes festlegten. Der Emir von Mekka sollte nach dem erfolgreichen Aufstand den Titel „König der Araber“ tragen. Dies alles stand im Widerspruch zu den Interessen ihrer wichtigsten europäischen Verbündeten, den Franzosen, und auch zu den eigenen kolonialen Vorstellungen. Frankreich beanspruchte syrisches Territorium und die Engländer selbst wollten über irakisches Gebiet herrschen.
Das Sykes-Picot-Abkommen
Der Betrug an den Arabern war vorgeplant und fand seinen Ausdruck im zwischen den Briten und Franzosen geheim gehaltenen Sykes-Picot-Abkommen, bei dem Frankreich und England Gebiete unter sich aufteilten, die Scherif Hussein für sein Königreich beanspruchte, das nach Kriegsende entstehen sollte. Das Dokument legte eine blaue Zone für französisches Einflussgebiet und eine rote Zone für britisches Einflussgebiet fest, wobei Palästina als noch ungeklärtes Gebiet braun gekennzeichnet wurde. Sykes und Picot holten dann für ihre Aufteilungspläne noch Russland mit ins Boot, das die Zusage erhielt, die Kontrolle über die Dardanellen, den Bosporus und Konstantinopel sowie über während des Krieges besetzte Gebiete zu erhalten. Im Mai 1916 stimmte Russland zu.
Der palästinensische Historiker George Antonius schrieb: „Das Sykes-Picot-Abkommen ist ein schockierendes Dokument. Nicht nur als ein Erzeugnis übelster Gier – will sagen, einer Gier, die mit Misstrauen einhergeht und deshalb geradewegs in die Dummheit führt; sondern es ist auch das abschreckende Beispiel eines bestürzenden Doppelspiels“.[2]
Befördert wurde die Allianz zwischen den Briten und den Haschemiten durch das brutale Vorgehen der Jungtürken, die in den arabischen Ländern bereits 1915 Nationalisten festnahmen und etliche hinrichten ließen. Viele für die Unabhängigkeit eintretende Araber flohen ins Ausland, im Mai 1916 ließen die Jungtürken abermals viele Nationalisten in Damaskus und Beirut hängen.
Eine Schrift Husseins eröffnete in Mekka am 10. Juni 1916 den Aufstand gegen die Osmanen auf der arabischen Halbinsel. Schon bald konnte Mekka unter haschemitische Kontrolle gebracht werden. Die Osmanen mussten auch die Hafenstadt Dschidda aufgeben, und auch Ta’if sowie die beiden Städte Rabigh und Yanbu am Roten Meer konnten ihnen abgenommen werden. Die Briten halfen mit Geld, Militärberatern und Luftaufklärung. Immer mehr arabische Offiziere und Soldaten, die im osmanischen Heer dienten, desertierten und schlossen sich dem arabischen Aufstand an.
Lawrence von Arabien unterstützte ab Herbst 1916 die arabischen Kämpfer gegen das Osmanische Reich und wurde rasch zu einer wichtigen Schlüsselfigur. Er unterhielt ein besonders enges Verhältnis zu einem Sohn Husseins, dem späteren König Faisal I. Mit Methoden des Guerillakriegs wurden osmanische Militärstützpunkte angegriffen und Sprengstoffanschläge auf die für den türkischen Nachschub wichtige Hedschas-Bahn, die Damaskus mit Medina verband, verübt. 1917 konnten die Hafenstädte al-Waidsch und Akaba von den Aufständischen eingenommen werden. Am 1. Oktober 1918 fiel Damaskus unter Führung von Prinz Faisal an die Araber, die in der Stadt einen triumphalen Einzug hielten. Noch am gleichen Tag rückten auch britische Truppen in die Stadt ein.
Lawrence von Arabien war vermutlich bereits bei seinem Zusammentreffen mit Sykes im Mai 1917 in Damaskus über das geheime Sykes-Pikot-Abkommen informiert worden. Während der gesamten Zeit des gemeinsamen Kampfes hatte Lawrence seine arabischen Verbündeten und Freunde in dem Glauben gelassen, ihnen sei nach einem Sieg die Unabhängigkeit sicher, wohl wissend, dass die arabischen Gebiete bei Kriegsende in britische und französische Einflusszonen aufgeteilt werden sollten.
Die Balfour-Deklaration
Am 2. November 1917 schrieb der damalige britische Außenminister Arthur Balfour an Lord Walter Rothschild: „Die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Ziels zu erleichtern, wobei, wohlverstanden, nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte“.
Diese Balfour-Deklaration mit ihren weitreichenden Folgen, stellte keineswegs nur ein Entgegenkommen den Zionisten gegenüber dar, sondern es sollte mit Hilfe der Zionisten der britische Herrschaftsanspruch in Palästina sichergestellt werden. Es wäre undenkbar gewesen, dass sich die Zionisten ohne die Hilfe einer Großmacht in Palästina hätten behaupten können. Allerdings stand die Balfour-Deklaration nicht nur im Gegensatz zu den französischen Interessen, sondern stand gegen den ausdrücklichen Willen der palästinensischen Bevölkerung, wie die King-Crane-Commission der UN[3] feststellte.
Bemerkenswert erscheint, dass die britische Regierung den Zionisten bereits am 2. November 1917 Palästina zugesagt hatte, obwohl Jerusalem erst am 9. Dezember 1917 vom Osmanischen Reich an die Briten fiel. Nach dem Fall von Mekka und Bagdad stellte die Kapitulation der Osmanen in Jerusalem einen Wendepunkt im Ersten Weltkrieg dar.
Die Russische Revolution von 1917
In Russland kam es im November 1917 zur Revolution. Es bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte, die Armee wurde demokratisiert und Lenin forderte einen sofortigen Waffenstillstand. Die Bolschewiken veröffentlichten den bisher geheim gehaltenen Inhalt des Sykes-Picot-Abkommens der Entente und informierten damit über die wahren imperialistischen Kriegsziele von Großbritannien und Frankreich. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Nahen Osten und der Emir von Mekka, Ahmed, und seine Söhne Faisal und Abdullah wurden als Marionetten Großbritanniens bloßgestellt. Die Briten beschwichtigten die Haschemiten, indem sie ihre Versprechen bekräftigten und so Hussein weiter an ihrer Seite hielten.
Im Nahen Osten setzten die Briten ihre militärischen Erfolge fort. Nach dem umfassenden Sieg der Briten mit Hilfe der Haschemiten sollten die eroberten Gebiete aufgeteilt werden, doch Hussein und seine Söhne hatten das Nachsehen: Palästina den Briten, der Libanon den Franzosen. Die Briten behielten sich zudem vor, während der gesamten Kriegszeit das Oberkommando über alle arabischen Gebieten auszuüben. Das mit den Haschemiten ausgehandelte Damaskus-Protokoll war nur noch Makulatur.
Die Revolution in Russland von 1917 hatte auch auf Italien Auswirkungen, wo sich Streiks, Demonstrationen und Meutereien häuften. Gewalttätige Proteste erschütterten die Städte, Hungersnöte führten zu Antikriegsdemonstrationen, die Unruhen erreichten auch das Militär. Die italienischen Soldaten waren während des Ersten Weltkriegs einer brutalen Disziplin ausgesetzt. An die 750 Soldaten wurden aus disziplinarischen Gründen erschossen. Generalstabschef Cadorna hatte die Praxis aus dem antiken Rom übernommen, aus den Einheiten, die im Kampf versagt hatten, jeden zehnten Mann erschießen zu lassen. Im November 1917 hatte Italien 700.000 Mann verloren, davon über 350.000 Mann durch Fahnenflucht. Eine antimilitaristische Stimmung verbreitete sich über das ganze Land, der militärische Zusammenbruch schien unausweichlich, es herrschte eine revolutionäre Stimmung. Nur mühsam gelang es dem neuen Generalstabschef Armando Diaz, der dem entlassenen Cadorna nachfolgte, die Situation zu entschärfen, indem er eine humanere Behandlung der Soldaten durchsetzte.
Das Kriegsende
Am 8. Oktober 1918 trat die osmanische Regierung in Istanbul zurück, am 30. Oktober schlossen britische und osmanische Unterhändler auf einem vor der Insel Limnos ankernden Schiff ein Waffenstillstandsabkommen, das besagte, dass am 31. Oktober 1918 alle Kampfhandlungen eingestellt werden. Elf Tage später kapitulierte auch das Deutsche Kaiserreich. In vielen europäischen Ländern bedeutete dies das Ende der Monarchie.
Pariser Friedenskonferenz und ihre Folgen
Bei dem neugegründeten Völkerbund war zum ersten Mal von einem Selbstbestimmungsrecht der Völker die Rede, so dass die arabischen Länder auf eine baldige Unabhängigkeit hofften. Dies hatte zur Folge, dass die bereits vorab getroffenen Absprachen zwischen Frankreich und England über die Aufteilung der Kriegsbeute kaschiert werden mussten. Dies geschah, indem den Kolonialmächten nur ein vorläufiges Mandat über die arabischen Gebiete erteilt wurde und erst als längerfristiges Ziel deren Unabhängigkeit angestrebt werden sollte.
Die Pariser Friedenskonferenz begann am 18. Januar 1919 und dauerte bis zum 21. Januar 1920. Just zum selben Tag, an dem eine ägyptische Delegation zu den Friedensverhandlungen in Paris eintraf, erkannte der damalige US-Präsident Wilson das britische Protektorat über Ägypten an und die ägyptische Delegation wurde in Paris nicht einmal angehört.
Für die Haschemiten war Prinz Faisal in Paris angereist. Faisal beanspruchte als zugesagte Gegenleistung für seine Unterstützung der Alliierten die Königsmacht über Teile der arabischen Halbinsel mit Mekka und Medina (Hedschas), über den sein Vater bereits herrschte, sowie über die Gebiete der heutigen Staaten Syrien, Libanon, Jordanien, Israel und Palästina. Er sollte schwer enttäuscht werden.
Idris as-Senussi, der 1951 als libyscher König eingesetzt wurde, zeigte sich schon damals geschmeidig. Er traf mit den Italienern ein Abkommen, in dem der Kyrenaika die Unabhängigkeit und ihm selbst die Herrschaft darüber zugesprochen wurde. Sein Vorgehen wurde von vielen libyschen Stämmen, insbesondere im Westen Libyens, missbilligt und führte so zur Spaltung des gesamten libyschen Widerstands.
Das Ende des Osmanischen Reiches (1920)
Im April 1920 trafen sich Regierungsvertreter Italiens, Großbritanniens und Frankreichs in San Remo und vereinbarten, dass Großbritannien Mandatsmacht in Palästina einschließlich Transjordaniens und Mesopotamiens werden und Frankreich das Mandat über Syrien einschließlich des Libanons erhalten sollte.
Im Mai 1920 wurden der Hohen Pforte in Istanbul die Friedensbedingungen mitgeteilt, die beinhalteten, dass sämtliche arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches europäischen Mandatsmächten übertragen werden. Die Soldaten der Alliierten blieben als Besatzungsmächte in den arabischen Gebieten, die einer bei den Einheimischen verhassten Militärverwaltung (Occupied Enemy Territory Administration) unterstellt waren.
Der Sieg des Imperialismus
Aus Syrien zog sich Großbritannien zwar zurück, übergab das Land aber nicht Faisal, sondern einer französischen Militärverwaltung. Faisal versuchte, sich mit der Bildung einer Gegenregierung zu wehren, deren Streitkräfte aber von den Franzosen vernichtend geschlagen wurden. Die Bevölkerung Palästinas hatte sich bei einer Befragung mit allem Nachdruck gegen ein „zionistisches Projekt“ ausgesprochen, trotzdem wanderten nach 1920 gemäß der Balfour-Deklaration mit britischer Unterstützung immer mehr Juden nach Palästina ein.
Im Juni 1920 brachen im gesamten Irak Aufstände gegen die britische Besatzung auf. Die darauf folgenden Luftangriffe und schweren Artilleriebeschüsse der Briten hinterließen verbrannte Erde und brachen den Widerstand der Bevölkerung. Der Aufstand war Ende Oktober niedergeschlagen.
Im Hedschas verlor Scherif Hussein sogar sein eigenes Territorium an eine andere Königsmacht, deren Anführer Ibn Saud hieß. Dieser hatte von den Briten 1915 einen Bündnisvertrag und regelmäßige Geldzahlungen erhalten. 1925 eroberten die Saudis auch Medina. Mehr Verrat an einem zutiefst verbitterten Scherif Hussein war nicht möglich. Um dies zu bemänteln, wurden den Haschemitenprinzen nominelle Königsämter übertragen: Faisal sollte König des Iraks werden und sein Bruder Abdullah König von Transjordanien.
Der europäische Imperialismus hatte fürs Erste gesiegt und Großbritannien, Frankreich und Italien konnten sich als die neuen Kolonialmächte an die Stelle des Osmanischen Reiches setzen. Alle Träume von der Entstehung arabischer Nationalstaaten hatten sich vorerst zerschlagen. Großbritannien und Frankreich konnten ihren Einfluss in der Region noch vergrößern und Italien verschiffte immer mehr Truppen nach Libyen.
[1] nach Eugene Rogan „Der Untergang des Osmanischen Reichs“
[2] Nach Eugene Rogan „Der Untergang des Osmanischen Reichs“
[3] https://www.un.org//unispal/document/auto-insert-206598/
Karte:
https://lehrerfortbildung-bw.de/u_gewi/geschichte/gym/bp2016/fb8/3_kl10/11_armenier/02_ue2/02_karte/
Literatur:
Eugene Rogan, „Der Untergang des osmanischen Reichs. Der Erste Weltkrieg im Nahen Osten. 1914 – 1920“, wbg Theiss Verlag 2021
Hew Strachan, „Der erste Weltkrieg“, Goldmann, 2014
Burchard Brentjes, „Libyens Weg durch die Jahrtausende“, akzent, Urania Verlag Leipzig
Angelo del Boca, „Gli italiani in Libya“, Editori Laterza, 1997
Nach Paolo Sensini, „Es war einmal Libyen“, 2012 Frankfurt a.M
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