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Schlagwort: senussi

Libyen und die arabische Welt von 1911 bis 1925

Kolonialismus/Erster Weltkrieg. Ein geschichtlicher Abriss: türkisch-italienischer Krieg / Erster Weltkrieg / Ende des Osmanischen Reiches / libyscher Freiheitskampf / Verrat an der arabischen Welt

Der türkisch-italienische Krieg 1911/1912

Das Osmanische Reich, das über weite Gebiete des Nahen Ostens und Nordafrikas herrschte, musste bereits 1830 Algerien und 1881 Tunesien an Frankreich abtreten. Im Jahr 1882 verloren die Osmanen auch Ägypten, das an die Briten fiel.

Das Gebiet des heutigen Libyens befand sich noch unter osmanischer Herrschaft, auch wenn bereits Ende des 19. Jahrhunderts italienische Banken und Geschäftshäuser an der Küste von Tripolitanien und der Kyrenaika den Ton angaben.

In Italien, das 1871 als Monarchie vereint worden war, hegte König Viktor Emanuel III. den starken Wunsch, sich ebenfalls als Kolonialmacht zu behaupten und dem geschwächten Osmanischen Reich die Herrschaft über Libyen zu entreißen. Das Presseorgan der „Associazione nazionalista italiana“, Ideà Nazionale, schrieb über die kolonialen Ziele Italiens: „Der Nationalismus Italiens ist Afrikanismus“. Italien habe die heilige Mission zu erfüllen, die „hellenische Schönheit“ der Küstenstädte Libyens von türkischer Misswirtschaft zu befreien. Der „Bevölkerungsüberschuss“ solle dort abgesetzt werden und Italien benötige Kolonien, um für die wachsende Industrie genügend Rohstoffe zur Verfügung zu haben. Dies schaffe Arbeitsplätze und erleichtere den Handel. Und die Zeitung La Stampa schrieb 1911: „Libyen ist das gelobte Land, Italien von der Vorsehung zugesprochen.“

An diesem gewinnversprechenden, kolonialistischen Vorhaben war auch der Vatikan interessiert. Seine Banco di Roma hatte bereits Konzessionen für Bergwerke, Industrieanlagen und Schifffahrtsunternehmen in Libyen erworben und war somit für die dort erhofften goldenen italienischen Zeiten bestens gerüstet.

Am 28. September 1911 bezogen italienische Kriegsschiffe vor Tripolis unter dem Vorwand Stellung, dass sich die Osmanen zu sehr in ihre Handelsgeschäfte einmischten und dass italienische Staatsbürger in Tripolis und Bengasi zu schützen seien. Am 29. September 1911 erklärte Italien dem Osmanischen Reich den Krieg.

Zu dieser Zeit befanden sich nur noch wenige türkische Streitkräfte innerhalb Tripolis, so dass an eine Verteidigung nicht zu denken war. Am 4. Oktober rückte eine 34.000 Mann starke italienische Armee, unterstützt von Kriegsschiffen und Flugzeugen, gegen etwa 4.200 osmanische Soldaten vor. Durch Beschuss des nahe dem Hafen gelegenen Forts wurde auch ein Wohnviertel in Mitleidenschaft gezogen. Noch im Oktober 1911 fielen die Küstenstädte Tripolitaniens und der Kyrenaika.

In der Stadt Tripolis verbreiteten die Italiener die Bekanntmachung, dass die Rechte der Bevölkerung geachtet sowie die Religion als heilig angesehen und die Frauen geschützt würden. Im krassen Gegensatz dazu stand das tatsächliche Verhalten der Soldaten, die Angst und Schrecken verbreiteten, mordeten, vergewaltigten, plünderten und Moscheen entweihten. Zeuge dieser Vorgänge wurde der deutsche Ethnograph G. A. Krause, der in einem Interview mit dem Berliner Tageblatt einen italienischen Offizier zitierte, der die Morde der Invasoren an tausenden Zivilisten damit rechtfertigte, dass dieses brutale Vorgehen einen tiefen Eindruck bei den Arabern hinterlasse. An anderer Stelle schrieb G. A. Krause: „Die Eingeborenen verlangen Gewehre und Kanonen, um sich verteidigen zu können… Ein gewöhnlicher Arbeiter, den ich fragte, was sich die Leute erzählen, sagte nur: Die Italiener wollen das Land nehmen.“

In Italien formierte sich eine Gegenbewegung, die sich den kolonialen Kriegen widersetzte. Die Arbeiterbewegung war am Erstarken und ihre Führer riefen zu Demonstrationen und Streiks auf, um den Krieg in Libyen zu verhindern. Erfolglos.

Am 1. November 1911 schrieb Italien traurige Waffengeschichte: Es flog in Libyen den weltweit ersten Bombenangriff, bei dem drei je zwei Kilogramm schwere Bomben auf türkische Verbände abgeworfen wurden und zeigte damit umso mehr, dass der „kranke Mann am Bosporus“ den italienischen Streitkräften hoffnungslos unterlegen war.

In Istanbul war man nicht bereit, die von Italien eroberten libyschen Gebiete kampflos aufzugeben. Die politische Bewegung der Jungtürken bereitete sich unter der militärischen Führung von Enver Pascha darauf vor, von Ägypten aus einen Guerillakrieg gegen die Italiener zu führen, die im Osten Libyens die Städte Bengasi, Tobruk und Derna besetzt hatten. Enver konnte unter seiner Fahne auch arabische Kämpfer sammeln, die sich gegen die italienische Fremdherrschaft zur Wehr setzen wollten.

Der Guerillakrieg um die ostlibysche Stadt Derna war so erfolgreich, dass es den Italienern kaum möglich war, ihre Stellungen zu verlassen; an eine Eroberung des Hinterlands der Kyrenaika war nicht zu denken.

Die Italiener entwarfen den Plan, die Türken an anderen Orten so stark zu binden, dass sie gezwungen waren, ihre Soldaten aus Libyen abzuziehen. Sie brachten  die Osmanen, die auch im Jemen und auf der Arabischen Halbinsel in Kämpfe verwickelt waren, beispielsweise im Hafen von Beirut oder auf dem Balkan so in die Defensive, dass sich diese genötigt sahen, am 18. Oktober 1912 einen Friedensvertrag mit Italien zu akzeptieren, in dem Libyen den Italienern zugesprochen wurde. Die europäischen Großmächte erkannten die neue italienische Kolonialmacht in Libyen an.

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Der libysche Freiheitsheld Omar al-Muchtar

Am 16. September 2021 jährte sich der 90. Todestag des libyschen Nationalhelden Omar al-Muchtar. Er wurde von italienischen Kolonialtruppen erhängt.

Omar al-Muchtar (al Mukhtar) wurde 1862 geboren, war Korangelehrter der bedeutenden religiösen Bruderschaft des Senussi-Ordens und führte von 1923 bis 1931 in der Kyrenaika den libyschen Widerstand gegen die italienische Kolonialmacht an.

Im Oktober 1922 hatte Benito Mussolini in Italien die Macht ergriffen mit dem erklärten Ziel, das antike Römische Reich wieder aufleben zu lassen. Für Libyen, das unter italienischer Kolonialherrschaft stand, hatte dies verheerende Folgen. Nachdem Mussolini die „Wiedereroberung“ und „Ausweitung des Kolonialbesitzes“ ausgerufen hatte, organisierte sich der libysche Widerstand neu.

Der italienische Generalgouverneur für Libyen kündigte alle in dem Land geschlossenen Verträge und 1927 wurde die Gleichstellung von Italienern und Libyern aufgehoben. Jeder libysche Widerstand sollte von nun an kompromisslos unterdrückt werden.

Brennpunkte des Aufbegehrens gegen die Kolonialmacht waren zunächst Tripolitanien und der Fessan. In den Nafusa-Bergen wurde jedes Dorf zu einer Festung ausgebaut. Als es den Italienern dank ihrer waffentechnischen Überlegenheit– sie kämpften mit Panzern und Flugzeugen gegen die berittenen und nur mit Gewehren ausgerüsteten Libyer – gelang, in Tripolitanien die Stämme zu bezwingen, gingen sie als nächstes gegen die Kyrenaika vor. Dort führte seit 1923 der Senussi-Scheich Omar al-Muchtar den Widerstand der Freischärler an. Der Partisan und Freiheitsheld Muchtar bot mit seiner kleinen Partisanengruppe zwanzigtausend italienischen Soldaten Paroli und schrieb damit Geschichte. Muchtar gehörte zum Stamm der Minifa, hatte eine traditionelle Erziehung bei den Senussi genossen und trug den Titel eines Bevollmächtigten des Emirs.

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Kurznachrichten Libyen – 07.08.2021

Milizenkämpfe und Ausgangssperren / Italien greift nach Libyens Süden / Keine Einigung über Verfassungsgrundlagen der Wahlen und keine Verabschiedung des Wahlgesetzes / Skandal um Plätze in Rettungsflug

+ 06.08.: Milizenkämpfe. In der Gegend von Bir Sardin (südlich der Stadt az-Zawiya/westliches Libyen) wurde ein Lebensmittelgeschäft in die Luft gesprengt. Die starke Explosion steht in Zusammenhang mit Milizenkämpfen um die Kontrolle von Teilen der Küstenstraße und soll eine Racheaktion von az-Zawija-Milizen sein. Das gesprengte Lebensmittelgeschäft gehörte dem Bruder des Wirschefana-Miliz-Führers Muammar ad-Dhawi. Die Wirschefana-Milizen hatten vor kurzem Treibstoffschmuggler der al-Zawiya-Milizen an der Küstenstraße gestoppt.
Bereits vor einer Woche kam es in der al-Maya-Region (westliches Libyen) zu Kämpfen zwischen az-Zawiya-Milizen und Wirschefana-Milizen, bei denen auch schwere Waffen zum Einsatz kamen.
https://libyareview.com/15455/renewed-militia-clashes-in-western-libya/

+ 01.08.: Milizenkämpfe. Italien beobachtet die Kämpfe zwischen den Milizen von Zawia und Tripolis aus der Luft, denn die Zusammenstöße nähern sich der Raffinerie von az-Zawia (ENI).
https://twitter.com/ItaMilRadar/status/1421401258297016320

+ 06.08.: Ausgangssperre. In den westlichen Regionen wurde die Ausgangssperre verschärft. Die libysche Regierung verhängte eine vollständige Ausgangssperre für Samstag, Sonntag und Montag in der westlichen Region. Die anderen Regionen sind davon ausgenommen. War sie bisher nur von 18.00 bis 6.00 Uhr in Kraft, gilt sie nun 24-stündig. Angeblich soll damit die Ausbreitung von Covid-19 eingeschränkt werden. Im östlichen und südlichen Libyen gilt keine Ausgangssperre.
https://www.libyaherald.com/2021/08/06/western-libyas-partial-lockdown-raised-to-a-total-lockdown-for-this-saturday-sunday-and-monday/
Der Ausgangssperre gingen Aufrufe zu Demonstrationen gegen die Muslimbruderschaft in Tripolis voraus. Die GNU-Regierung fürchtet ein Übergreifen der tunesischen Unruhen und Proteste auf das westliche Libyen.

+ 31.07.: Zensur/Tripolis. Die Rada-Miliz hat den Journalisten Ahmed as-Senussi in der libyschen Hauptstadt verhaftet, wohl weil er einen Protest gegen die Libysche Zentralbank organisieren wollte. Nachdem as-Senussi live vor der Zentralbank in Tripolis aufgetreten war und seine Anhänger aufgefordert hatte, die angekündigte Demonstration auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, erfolgte seine Festnahme.
Nach einem „Gespräch“ mit al-Ahrari, einem Milizenführer von Abu Salim, der unter Sarradsch die Abteilung Innere Sicherheit der ‚Einheitsregierung‘ leitete, wurde as-Senussi wieder auf freien Fuß gesetzt.
Die Rada-Miliz betreibt neben dem Schutz der Libyschen Zentralbank auch das verrufene Mitiga-Gefängnis auf dem gleichnamigen Flughafen von Tripolis, in dem immer noch viele unrechtmäßig festgehaltene Gefangene einsitzen. Die Rada-Miliz ist offiziell mit dem Innenministerium verbunden, trägt aber Militäruniform.
As-Senussi hatte seine Facebook-Follower aufgerufen, das „Bankensystem zu retten und eine erneute politische Spaltung zu vermeiden“. Es entbehre jeder Vernunft, dass „die Reichen des Landes einen USD für 4,48 LD bekommen und die Armen dafür mehr als fünf LD bezahlen müssen.“
Vor wenigen Tagen hatte der libysche Boxer Malik Zinad „die Ausweisung von Siddiq al-Kebir“, seines Zeichens Bankster und Chef der Libyschen Zentralbank, aus Libyen gefordert. Später löschte Zinad seinen Beitrag wieder.
LibyaReview schreibt: „Die Abwertung des libyschen Dinars ist das Ergebnis von Chaos, politischer Spaltung und der Macht bewaffneter Gruppen seit dem Ende der Herrschaft des verstorbenen Führers Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011. Harte Fremdwährungen sind nicht in Banken erhältlich, sondern auf dem Schwarzmarkt. Der Tageskurs wird auf dem al-Mushir-Währungs- und Goldmarkt in der Altstadt hinter dem Zentralbankgebäude festgesetzt“.
Libyen, das einst reichste Land Afrikas und Mitglied der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC), befindet sich in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage. Die Auszahlung der Grundrenten verzögere sich um mehr als drei Monate, Bargeld sei Mangelware, Entwicklungsprojekte würden gestoppt.
Als im August letzten Jahres Demonstranten in Tripolis vor dem Hintergrund der sich ständig verschlechterten Lebensbedingungen die Absetzung von Siddiq al-Kebir forderten, wurden sie von der an-Nawasi-Miliz beschossen. Obwohl vehement die Absetzung von al-Kebir, der der Moslembruderschaft nahesteht, gefordert wurde, ist er immer noch im Amt. https://libyareview.com/15325/journalist-arrested-in-libyan-capital-for-organising-a-protest-against-libyan-central-bank/
Siehe auch: https://www.freitag.de/autoren/gela/libysche-zentralbank-und-moslembruderschaft

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