Die furchtbaren Geschehnisse in Israel  und im Gazastreifen könnten auch als das Ende des Status quo und als Neubeginn für Friedensverhandlungen gedeutet werden. Wie bisher kann es nicht weitergehen.

Es begann am 7. Oktober mit dem Abschuss von über 2.200 Raketen auf Israel und der anschließenden Überwindung der Grenzsicherungen, dem Eindringen von über tausend Kämpfern auf israelisches Gebiet und einem anschließenden Gemetzel an der israelischen Zivilbevölkerung. Israel bombt vor allem die Zivilbevölkerung in Gaza und steht augenblicklich mit geballter Militärkraft an der Grenze zu Gaza und hat den Kriegszustand erklärt. Mit wem ist Israel eigentlich im Krieg? Dem Gazastreifen, der Hamas, den Palästinensern, denen es immer noch keinen Staat zugesteht?

In Israel befindet sich eine extreme Hardliner-Regierung an der Regierung, die sich seit Wochen mit gegen sie gerichteten Großdemonstrationen einer machtvollen Oppositionsbewegung auseinandersetzen muss. Sogar das israelische Militär wurde geschwächt, indem Reservisten ankündigten, sich einem Militäreinsatz unter dieser Regierung zu widersetzen.

Währenddessen waren die USA in der letzten Zeit verzweifelt bemüht, arabische Länder zu Abkommen mit Israel zu bewegen. Dies erschien umso dringlicher, je stärker sich die Hisbollah im Libanon, unterstützt vom Iran, militärisch entwickelt. Und je mehr sich der Iran und die arabischen Länder, insbesondere Saudi-Arabien, annähern.

Ein Friedensabkommen zwischen Israel und Saudi-Arabien wäre für die USA mehr als wünschenswert, doch kann sich Saudi-Arabien ein derartiges Abkommen nicht leisten, zumindest so lange nicht, so lange die Palästinenser nicht endlich einen eigenen Staat haben, der israelischen Apartheitspolitik ausgesetzt sind und mindestens fünf Millionen Palästinenser als Vertriebene im Ausland leben. Selbst wenn bin Salman ein Abkommen wollte, könnte er es nicht durchsetzen, denn die Menschen in allen arabischen Ländern stehen geschlossen, anders als manche arabische Regierung, hinter den Palästinensern.

Die Nachbarstaaten

Im politisch zerfallenen Libanon konnte die vom Iran unterstützte Hisbollah seit einigen Jahren militärisch stark aufrüsten. Schon beim Krieg zwischen Israel und der Hisbollah im Jahr 2006, der mit einem Waffenstillstand endete, machte die israelische Armee keine gute Figur und zog sich aus dem Libanon wieder zurück. Die Hisbollah hatte eine überraschende militärische Stärke gezeigt, die sich inzwischen noch verstärkt haben dürfte.
Im gegenwärtigen Konflikt halten bisher sowohl Israel als auch der Libanon die Füße still. Die Hisbollah drohte jedoch, bei einer Bodenoperation Israels im Gazastreifen militärisch einzugreifen. Sollte sie dies tun, müssten die USA Israel militärisch zur Seite springen, da Israel vermutlich kaum in der Lage wäre, einen Krieg an mehreren Fronten zu gewinnen. Sollten die USA auf Seiten Israels eingreifen, könnte  der libanesischen Hisbollah der Iran zu Hilfe eilen. Damit wäre ein Krieg zwischen dem Iran und den USA vorprogrammiert.

Im Nachbarstaat Syrien ist es den USA nicht gelungen, Präsident Assad zu stürzen. Er sitzt fest im Sattel, die Russen haben ihre dortigen Militär- und Marinestützpunkte behalten und der Iran unterstützt weiterhin die syrische Regierung. Vor wenigen Tagen besuchte der syrische Präsident Saudi-Arabien und versicherte sich bei Mohamed bin Salman der Hilfe für den Wiederaufbau seines Landes. Saudi-Arabien will Syrien nicht allein dem Iran als Einflussgebiet überlassen, verbessert insgesamt die Beziehungen zum Iran und setzt auf eine bedeutendere politische Rolle bei der Neuverteilung der geopolitischen Kräfte. In der jetzigen Situation hat Syrien, dessen strategisch wichtige Golanhöhen völkerrechtswidrig von Israel besetzt sind, sein Militär in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Ein militärisches Eingreifen in den Israel-Palästina-Konflikt ist vorerst nicht zu erwarten.

Die längste Grenze Israels ist jene zu Jordanien, das ein fester Verbündeter des Westens ist, der dort auch Militärbasen unterhält. Laut einer Umfrage vom März 2022 sehen sich jedoch 47 Prozent der Jordanier von Israel bedroht und 81 Prozent lehnen einen weiteren Normalisierungsprozess mit Israel ab.[i] Und dies, obwohl Jordanien mit Israel seit Jahrzehnten diplomatische Beziehungen pflegt und 1994 die politischen Akteure ein Friedens- und Handelsabkommen unterzeichneten. Nach den jüngsten Geschehnissen in Israel kam es auch in Amman zu Solidaritätsbekundungen mit den Palästinensern. Israel hat die Grenzen zu Jordanien, in dem zwei Millionen Palästinenser leben, geschlossen und sein Botschaftspersonal zurückberufen.[ii]

Auf dem Sinai liegt die einzige Außengrenze Gazas, das hier an Ägypten grenzt, ansonsten vom Mittelmeer und von israelischen Grenzzäunen umschlossen ist. Auf ägyptischer Seite wird befürchtet, dass Hardliner in Israel den Plan verfolgen, in den Gazastreifen einzumarschieren und die dort lebenden zwei Millionen Palästinenser über die ägyptische Grenze auf den Sinai zu vertreiben, um anschließend den Gazastreifen Israel einzuverleiben. Am 10. Oktober bombardierte Israel nahe des Grenzübergangs Rafah.[iii] Es wurde befürchtet, dass Grenzbefestigungen beschädigt werden sollten, um den Palästinensern die Flucht nach Ägypten zu erleichtern. Der ägyptische Präsident as-Sisi warnte, er werde es nicht zulassen, dass die Palästinenserfrage auf Kosten anderer Parteien gelöst wird. Ägypten kann kein Interesse daran haben, sich auf der immer wieder von extremistischen Islamisten heimgesuchten Sinai-Halbinsel auch noch ein Hamas-Problem samt Flüchtlingslager anhängen zu lassen.

Verlagerung der geopolitischen Kräfteverhältnisse

Dies alles geschieht in einem Umfeld, in der sich die geopolitischen Kräfteverhältnisse von der allein tonangebenden Weltmacht USA weg und hin zu einer multipolaren Welt verschieben. Just in dem Moment, wo im Ukraine-Krieg Russland meldet, dass die ukrainische Gegenoffensive gescheitert ist und nun Russland auf dem Vormarsch sei, und während die USA und der Westen einen Großteil ihrer Waffenarsenale an die Ukraine geliefert haben – wobei durch Waffenschieberei ein Teil davon auf Seiten der Hamas gelandet ist – dürfte die USA nicht mehr in der Lage sein, Israel im großen Maßstab militärisch und mit Waffenlieferungen zu unterstützen.

Das Überwinden aller ausgeklügelten Verteidigungsanlagen durch Hamas-Kämpfer, das Eindringen auf israelisches Gebiet und die Ermordung von über tausend Israelis hat den Unbesiegbarkeitsmythos Israels und seines legendären Mossad-Geheimdienstes ebenso erschüttert wie die Überwindung des Iron Domes durch Hamas-Raketen. Wie sollte es Israel, umgeben von arabischen Nachbarn, insbesondere mit der feindlichen Hisbollah aufnehmen können? Bis jetzt halten die Palästinenser im Westjordanland, in Israel selbst und in den Nachbarstaaten noch still. Doch wird es so bleiben, sollte Israel in Gaza wirklich ihrerseits eine blutige Bodenoffensive beginnen? Mit einem Eingreifen der Hisbollah muss gerechnet werden, die sich in der Rolle desjenigen sehen könnte, der die Responsibiliy to Protect (Schutzverantwortung) für das palästinensische Volk übernimmt.

UNO

Nachdem Israel noch davor zurückschreckt, eine Bodenoffensive zu beginnen und stattdessen eine Totalblockade des Gazastreifens angekündigt hat, stellte die UNO unverzüglich klar, dass dies völkerrechtswidrig sei. Es sei unter dem humanitären Völkerrecht verboten, Menschen das vorzuenthalten, was sie zum Überleben brauchen. Den Zivilisten im Gazastreifen Nahrungsmitteln, Wasser, Strom, Benzin und medizinische Güter zu entziehen, das geht gar nicht.[iv]

Globaler Kräfteverschiebungen

Wie sollten es Israel, ja selbst die USA oder die Nato, mit dem Iran aufnehmen in Anbetracht der militärischen und wirtschaftlichen Schwächung des Westens, insbesondere durch den Ukraine-Krieg? Dass der Iran der Drahtzieher der jüngsten Eskalation sein könnte, wird von Politanalytikern wie Roland Popp von einer schweizer Militärakademie bestritten.[v] Der schiitische Iran steht im ideologischen Gegensatz zur sunnitischen Hamas, auch wenn er als wichtiger Unterstützer der palästinensischen Sache gilt.

Thierry Meyssan sieht als Drahtzieher beim Hamas-Angriff auf Israel auch nicht den Iran, sondern ausgerechnet den Nato-Verbündeten Türkei, der enge Beziehungen zu Katar, dem Hauptgeldgeber der Hamas, pflegt und hochrangigen Hamasführern Unterschlupf gewährt.[vi]

Israel hat viele Palästinenser im eigenen Land, ist umgeben von Palästinensern im Gazastreifen, im Westjordanland, in den Flüchtlingslagern in den arabischen Ländern rund um Israel, während deren arabische Bevölkerung sich mit den Palästinensern solidarisiert, die von einem militärisch starken Iran und einem finanzstarken Katar unterstützt werden. Gleichzeitig strauchelt die israelische Schutzmacht USA, sowohl innen- wie außenpolitisch, und dürfte an keinem Krieg mit dem Iran, und erst recht nicht an einem Dritten Weltkrieg, interessiert sein. Israel steckt in einer Sackgasse fest.

Frieden im Nahen Osten möglich?

Russland und China können sich zurücklehnen und auf Friedensverhandlungen drängen, ebenso wie dies viele andere, wie zum Beispiel südamerikanische Länder tun.[vii] Saudi-Arabien und der Iran werden im Sinne der Palästinenser an einem Strang ziehen, um zu versuchen, eine echte Friedenslösung für Palästina durchzusetzen.

Die Angst vor einer großen Eskalation mit ungewissem Ausgang, die sich sogar zu einem Dritten Weltkrieg ausweiten könnte, birgt die Möglichkeit, eine nachhaltige Friedenslösung im Nahen Osten mit einer Zweitstaatenlösung zu erzwingen. Dies sollten die USA, der Westen und Israel als Chance begreifen.

 

 

 

 

[i] https://www.israelnetz.com/jordanier-lehnen-normalisierung-mit-israel-ab/

[ii] https://taz.de/Reaktionen-auf-Angriff-gegen-Israel/!5965614/

[iii] https://freede.tech/international/182960-updates-zur-gaza-israel-eskalation/

[iv] https://lostineu.eu/total-blockade-in-gaza-ist-voelkerrechtlich-verboten/

[v] https://www.20min.ch/story/angriff-auf-israel-iran-oder-russland-als-drahtzieher-das-sind-schnellschuesse-301842984100

[vi] https://www.voltairenet.org/article219782.html

[vii] https://www.jungewelt.de/artikel/460760.stimmen-zum-nahostkonflikt-lateinamerika-fordert-frieden.html