Libyen/Türkei. Von 1517 bis heute strebt die Türkei danach, in Libyen eine Kolonialherrschaft auszuüben.

Die Osmanen als Kolonialmacht

Die Türken haben in Libyen eine lange, oft blutige, geschichtliche Spur hinterlassen. Ein Großteil des heutigen Libyens gehörte ab Mitte des 16. Jahrhunderts bis 1912 zum Osmanischen Reich und stand unter dessen ziviler und militärischer Verwaltung.

Ab 1517 fiel die Kyrenaika unter die Herrschaft der Osmanen, im Jahr 1551 folgte Tripolitanien. Erst nach langer Belagerung konnte Tripolis eingenommen, die Ritter des Malteser Ordens vertrieben und ein osmanischer Statthalter eingesetzt werden. Gegen die türkischen Besatzer erhoben sich immer wieder Stämme und es kam zu mehr oder weniger erfolgreichen Aufständen. So konnten Stämme unter Führung des aus Tadschura stammenden Dschadscha ben Dschadscha weite Teile Libyens und Tunesiens einnehmen, bis Dschadscha beim Sturm auf Tripolis starb. Sein Nachfolger Nial eroberte Tripolis und mordete dreitausend Janitscharen, die sich in der Stadt aufhielten. Istanbul schickte neue Truppen und übte grausame Rache. Nial wurde gefoltert und gehäutet und seine Haut dem Sultan nach Istanbul geschickt. Diese Gewalttat zog nur neue Revolten nach sich; in Tripolis entmachteten 1603 Offiziere der lokalen Milizen den Pascha, 1606 kam es bei den Bergstämmen zu Aufständen, kurz darauf erhob sich Tadschura, unterstützt von den Stämmen des Hinterlandes.

Die libyschen Stämme wissen also, was es heißt, von der Türkei besetzt zu sein und sie wissen auch, sich dagegen zu wehren. Und es ging schon damals nicht nur um die Herrschaft in Libyen, sondern auch um die Rivalität zwischen Türken und Griechen, um die Vorherrschaft im Mittelmeer. Die Vormachtstellung erobern wollten neben den Türken auch Spanier, Holländer und Franzosen sowie Engländer, die Malteser, Venedig und eine päpstliche Armada. Später mischte auch die neue Macht USA mit, die Tripolis durch eine Blockade aushungern wollten, so wie sie es heute mit Syrien versucht. Im Mittelmeer also nichts Neues.

Als 1911 Italien den Osmanen in Libyen den Krieg erklärte, drang das italienische Expeditionskorps mit einer unbezwingbaren Übermacht und technisch hoch überlegen in Libyen ein, so dass die Osmanen nur noch die italienische Okkupation anerkennen konnten. In Libyen begann die Zeit der italienischen Barbarei.

Die Türkei und die Dschamahirija-Regierung

Die Türkei unterhielt mit Libyen in der Gaddafi-Zeit beste Geschäftsbeziehungen, war ein wichtiger Wirtschaftspartner und verdiente mit Exporten nach Libyen eine Menge Geld. Trotzdem blickte der ehrgeizige Politiker Erdogan stets mit nostalgisch-verklärtem Blick zurück auf die glorreiche Vergangenheit des Osmanischen Reiches, in der Libyen eine türkische Provinz war. Rückhalt in Libyen hatte die Türkei stets nur bei den Bewohnern der Hafen- und Handelsstadt Misrata, die sich als Abkömmlinge der einstigen osmanischen Besatzer begreifen.

Heute versucht Erdogan, das Osmanische Reich wieder erstehen zu lassen und sich selbst als Führer der islamischen Welt und neuen Sultan zu etablieren. Aber wie heißt es doch bei Marx: Geschichte wiederhole sich zwar, das zweite Mal jedoch als Farce: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparolen, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.“[1]

2011: Der Krieg gegen Libyen beginnt

Als das Kriegsgeschehen 2011 seinen Anfang nahm, machte die Türkei zunächst gemeinsam mit der Afrikanischen Union das Angebot, als Vermittler zwischen den Westmächten (USA, Frankreich, Großbritannien) und der libyschen Regierung aufzutreten. Doch schon bald nahm die Türkei ihren Platz auf Seiten der Nato ein und zog mit in den Krieg gegen Libyen. In Antalya fanden am 16. Juli 2011 und am 31. Mai 2011 Konferenzen statt, die die Türkei zusammen mit Katar und Frankreich organisiert hatte und auf denen verschiedene extrem-islamistische Gruppen vertreten waren, die in Libyen gegen die Dschamahirija-Regierung kämpften. Etliche dieser dschihadistischen Kämpfer wurden nach der Ermordung Gaddafis via Türkei zum weiteren Einsatz nach Syrien verfrachtet. Nachdem er fünfzigtausend Millionen libysche Dinar in Libyen entwendet hatte, agierte dabei der von den USA eingesetzte Abdelhakim Belhadsch an der Grenze zwischen Türkei und Syrien als Handlanger Erdogans. 

Mit seiner Beteiligung an den Kriegen in Libyen und Syrien sah Erdogan die Möglichkeit, in den Kreis der regionalen Führungsmächte aufzusteigen. Das Mittel zum Zweck war die sunnitische Moslembruderschaft. Es sollten in den arabischen Ländern Nordafrikas Regierungen installiert werden, die aus Moslembrüdern bestand. Die Klammer dabei musste die sunnitische Religion bilden, da Araber und Türken weder kulturell noch abstammungsmäßig Verbindungen aufweisen, eine andere Sprache sprechen, eine andere Schrift schreiben. Erdogan sah sich als neuer Sultan innerhalb der sunnitischen Glaubensgemeinschaft.

Als die Nato offiziell das Kommando im Krieg gegen Libyen übernahm, beteiligten sich offiziell sechzehn Staaten daran, dreizehn davon Nato-Staaten. Die Türkei lieferte den ‚Aufständischen‘ Geheimdienstinformationen und leistete militärische Unterstützung. Der Grüne Joschka Fischer erklärte, die südliche Mittelmeerküste gehöre zum unmittelbaren Sicherheitsbereich der EU. Sowohl in Ägypten als auch in Tunesien war mit massiver US-Unterstützung die Moslembruderschaft an die Macht gelangt und hatte von Ost und West zur Zerstörung Libyens beigetragen.

Bereits am 4. Juli 2011 erklärte der türkische Außenminister anlässlich eines Besuches in der damaligen Oppositionshochburg Bengasi, dass die Türkei den Übergangsrat als einzig legitime Vertretung des libyschen Volkes anerkenne.

Abdelhakim Belhadsch wurde Ende 2011 zum Führer des Militärrats in Tripolis ernannt. In dieser Funktion traf er sich am 27. November 2011 in Istanbul mit Führern der gerade gegründeten Freien Syrischen Armee. Nun glaubten die USA, gemeinsam mit der Türkei und Katar, stark genug zu sein, um die Front gegen Syrien eröffnen zu können.

Die der Türkei zugedachte Funktion

Die USA beabsichtigten, der Türkei als wirtschaftlich erfolgreicher, neoliberaler, islamisch geführter Staat eine Vorbildfunktion für die Staaten, deren Regierungen im Verlauf des ‚Arabischen Frühlings‘ gestürzt worden waren, zukommen zu lassen. Der Westen erhoffte sich dabei, mit Hilfe der Moslembrüder und der Türkei ihre neoliberale Agenda durchsetzen zu können. Erdogan machte im September 2011 eine Rundreise durch Tunesien, Libyen und Ägypten. Allerdings war ihm die Bevölkerung dieser Länder nicht so wohlgesonnen, wie er sich das erträumt hatte. Schon damals befürchtete man, Erdogan würde eine Neuauflage des Osmanischen Reiches anstreben und die Vorherrschaft über die Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas mit Hilfe der NATO erlangen.

In der Washington Post schrieb 2011 David Ignatius, dass die Strategie des ‚Arabischen Frühlings‘ zwischen Erdogan und dem damaligen US-Präsidenten Obama genau abgesprochen worden war.[2] Die beiden hätten im Laufe des Jahres dreizehn Mal miteinander telefoniert. Erdogan sei für die US-Pläne der perfekte Partner gewesen, denn er genoss große Glaubwürdigkeit bei der Moslembruderschaft und anderen islamischen Parteien, die der ‚arabische Frühling‘ stark gemacht hatte. Zudem habe Erdogan einen „Außenminister mit Kissinger-Ambitionen“ namens Ahmed Davutoglu. Davutoglu gilt als der Architekt für die Rolle der Türkei in Absprache mit den USA und der NATO. Er wollte die Türkei in Anlehnung an alte osmanische Großmachtträume unter der Vorherrschaft sunnitischer Islamisten zur wichtigsten Regionalmacht im Nahen Osten und Nordafrika machen. Ein Plan, den die Türkei bis heute weiter verfolgt.

Während all der kommenden Jahre wurde die Türkei zum sicheren Aufenthaltsort für Dschihadisten und Moslembrüder, speziell auch solchen aus Libyen. So hat dort nicht nur Abdelhakim Belhadsch inzwischen seinen Wohnsitz genommen, sondern auch der LIFG-Kommandant Khalif al-Scharif. Belhadsch fliegt ab und an per Privatflugzeug für wenige Stunden in Libyen ein. Er ist in Libyen als Kriegsverbrecher gesucht und muss dort um sein Leben fürchten.

2014: Das Blatt wendet sich

Während sich 2011, als es gegen die libysche Dschamahirija und Muammar al-Gaddafi ging, die Golfstaaten noch einig waren und sowohl Saudi-Arabien als auch Katar die verschiedenen Dschihadisten-Gruppen mit Geld, Waffen und militärisch unterstützten, kam es 2014 zum Bruch. Nun ging es um die Vormachtstellung innerhalb der islamischen Welt. Katar und die Türkei unterstützten weiterhin die Moslembrüder in Tripolis, während sich Saudi-Arabien, die VAE und Ägypten auf die Seite der Libyschen Nationalarmee (LNA) schlugen. Robin Wright veröffentlichte 2013 Korrekturen des Pentagon im ‚Krieg gegen Terror‘ in der New York Times. Diese sahen unter anderem die Teilung Libyens vor. War es also ein Zufall, dass sich der der CIA nahestehende General Haftar 2014 in den Osten Libyens zurückzog und die Hauptstadt Tripolis den Dschihadisten und Moslembrüdern überließ?

Die mit Hilfe des sogenannten ‚arabischen Frühlings‘ an die Macht gebrachten Moslembrüder in Ägypten waren zwischenzeitlich gestürzt und General as-Sisi, der die Moslembrüder gnadenlos als Terroristen verfolgte, hatte die Regierung übernommen. Auch die Moslembruderschaft in Tunesien war stark geschwächt. In Syrien hatte Russland zur Stützung der Assad-Regierung erfolgreich in den Krieg eingegriffen. Die USA unterstützten zunächst die Kurden in Syrien, um sie kurz darauf fallen zu lassen. Die Türkei übernahm die Kontrolle über Teile Nordsyriens um das Gebiet von Idlib.

Donald Trump tritt auf den Plan

Der Januar 2017 brachte eine Wende in der US-Außenpolitik als sich in der Folge von Donald Trump als neuer US-Präsident die US-Außenpolitik im Nahen Osten um 180 Grad drehte.

Die Moslembrüder waren out und es wurde der Schulterschluss mit Saudi-Arabien und allen arabischen Staaten, die gegen den Iran in Stellung gebracht werden konnten, gesucht. Unausweichlich verstärkten sich die Spannungen gegenüber Katar, das gute Beziehungen zum Iran unterhält. Hinter all dem stand die Ausrichtung einer neuen Israelpolitik. Der Einfluss des Irans im Libanon und in Syrien sollte unterbunden und auch diese Länder im Sinne Israels ausschließlich unter westliche Kontrolle gebracht werden.

Am 5. Juni 2017, einen Monat nachdem die Saudis Trump auf dem Riad-Gipfel der muslimischen Nationen empfangen hatten, beendeten Saudi-Arabien, die VAE, Bahrain und Ägypten die diplomatischen Beziehungen zu Katar. Die Türkei errichtete daraufhin in Katar einen Militärstützpunkt, der als direkte Warnung an die Saudis und Emiratis ausgelegt wurde, keine militärischen Maßnahmen gegen Katar in Erwägung zu ziehen.

Die Türkei ist wirtschaftlich stark von Katar abhängig und ideologisch mit der von Katar finanzierten Moslembruderschaft verbunden. Auch mit dem Iran pflegte die Türkei gute Handelsbeziehungen. Als wegen der von den USA verhängten Sanktionen gegen den Iran auf günstige Öllieferungen aus dem Iran verzichtet werden musste, war Ankara plötzlich auf billiges libysches Öl angewiesen.

Libyen ist einer der Schauplätze, auf denen die Türkei und Katar ihr Ringen um die regionale Vormachtstellung mit Saudi-Arabien und der VAE austragen. Erdogan unterstützt die von der UNO anerkannte, aber ohne jegliche Legitimation agierende ‚Einheitspartei‘ in Tripolis, steht dabei an der Seite der mächtigen Nato und wird von Teilen der EU, insbesondere Deutschland und Italien, unterstützt. Der Kampf gilt der Libyschen Nationalarmee (LNA) unter Feldmarschall Khalifa Haftar und dem libyschen Parlament, die weite Teile Libyens und der Ölfelder kontrollieren und auf deren Seite Saudi-Arabien, die VAE und Ägypten Stellung bezogen haben. Am Rande sei erwähnt, dass die USA beide Seiten unterstützen und bisher keine gewinnen lassen wollten. Die aktuelle Anbiederung der Türkei an Israel soll bei dem noch amtierenden US-Präsidenten Trump gut Wetter machen, um in Libyen nicht vollends fallengelassen zu werden.

In Syrien, Libyen, am Kaukasus und im östlichen Mittelmeer verfolgt die Türkei inzwischen eine eigene Agenda und ist für die USA, die EU und Russland ein Akteur geworden, der aus dem Ruder zu laufen droht.

Militärisch starke Türkei

Der Türkei ist es gelungen, eine eigene Rüstungsproduktion aus dem Boden zu stampfen und ihre Waffen erfolgreich in alle Welt zu exportieren. Im Bereich Killerdrohnen konnte sich die Türkei als ein führender Hersteller etablieren. Wie RT schreibt, befinden sich derzeit mehr Rüstungsfirmen in der Türkei als in Russland, Israel, Schweden und Japan zusammen; sie seien allerdings immer noch von westlicher Technologie abhängig und werden von Deutschland mit Waffen beliefert.[3]

Durch ihre Kriege gegen die Kurden, in Syrien, Libyen und neuerdings in Berg-Karabach konnte die Türkei beträchtliche Kriegserfahrung sammeln und ihre Waffensysteme testen, auch wenn sie keinen der Kriege wirklich gewonnen hat, sondern durch russische Vermittlung die jeweiligen Situationen beruhigt werden konnten. Die militärische Stärke der Türkei sollte nicht überschätzt werden und ob sich die Türkei gegen die im Prinzip mickrige, aber von Ägypten und anderen Staaten unterstützte LNA behaupten könnte, darf mehr als bezweifelt werden.

Im westlichen Libyen betreibt die Türkei heute zwei bedeutende Militärstützpunkte, al-Watija und Misrata, an deren Ausbau sie weiter arbeitet. Sie leistet mit Hilfe von Aufklärungsdrohnen und ihres Geheimdienstes für die ‚Einheitsregierung‘ Aufklärungsarbeit, indem sie Stellungen der LNA ausspioniert. Allerdings gelang es der LNA, eine große Anzahl der türkischen Drohnen abzuschießen. Das libysche Unternehmen für Telekommunikation und Informationstechnologie (LPTIC) wurde vom libyschen Parlament beschuldigt, sich zu einer „Spionage- und Abhörstation für die Türken“ entwickelt zu haben.

Erdogan und der Islamische Staat

Bewiesenermaßen unterhält Ankara enge Beziehungen zu islamistisch-dschihadistischen Kräften. So bestehen laut einer Studie der Columbia University des Jahres 2014 zahlreiche Verbindungen und Interaktionen zwischen offiziellen türkischen Stellen und der IS-Terrormiliz. Der Autor David L. Phillips beruft sich unter anderem auf Aussagen führender türkischer Politiker und Geheimdienstler. Bereits 2016 hatte auch das Bundesinnenministerium in einem als vertraulich eingestuften Schreiben festgestellt, dass die Türkei aktiv Verbindungen zu Islamisten unterhalte. Wörtlich heißt es in dem Bericht: „Als Resultat der vor allem seit dem Jahr 2011 schrittweise islamisierten Innen- und Außenpolitik Ankaras hat sich die Türkei zur zentralen Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen der Region des Nahen und Mittleren Ostens entwickelt.“[4] Zu diesen Gruppen bestehe eine „ideologische Affinität“ seitens der Regierungspartei AKP und des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan.

Tatsächlich dürfte Erdogan eher machtpolitische als religiöse Interessen verfolgen.

Die wirtschaftlichen Interessen der Türkei in Libyen

Nicht nur überschwemmen türkische Unternehmen mit ihren Waren den lokalen Markt, sondern der gesamte Krieg in Libyen entwickelte sich für die Türkei zu einem Bombengeschäft. So übernahm die türkische Firma SADAT International Defence Consultancy die Überwachung und den Transport von syrischen Söldnern nach Libyen, die türkische Firma BECAR die Lieferung von Drohnen. Das türkische CALIK führt Energie- und Stromprojekte in Libyen durch, auch das Energieunternehmen Karadeniz, will in den libyschen Stromsektor investieren. Was die Ölexploration betrifft, ist das türkische Mineralölunternehmen TPAO am Zug. Ein weiteres türkisches Unternehmen ist mit der Sicherheitsarchitektur der libyschen Häfen betraut und dem Unternehmen Dschingis sollen große Wiederaufbauprojekte versprochen worden sein.

Im November 2019 unterzeichneten die ‚Einheitsregierung‘ in Tripolis unter Sarradsch und die türkische Regierung zwei sogenannte Memoranden of Understanding (MoU) das zum einen gemeinsame Seegrenzen zwischen Libyen und der Türkei, die in der Realität nicht existent sind, festlegte, und zum anderen eine militärische Zusammenarbeit vorsieht. Mit der Festlegung der Seegrenzen setzte sich die Türkei in Gegnerschaft zu Ägypten und den EU-Ländern Griechenland und Zypern, die, von Frankreich unterstützt, seither dagegen Sturm laufen.

Es folgte Vertragsunterzeichnung auf Vertragsunterzeichnung zwischen der ‚Einheitsregierung‘ in Tripolis und der Türkei. Am 8. Juli 2020 wurde ein Abkommen geschlossen, das vorsieht, den Westen Libyens mit schwimmenden Kraftwerken zu versorgen, als Maßnahme gegen die ständigen Stromausfälle; am 20. Juli folgte der Vertragsabschluss zur Verwaltung der libyschen Häfen und am 13. August einer zur Wiederaufnahme der durch den Libyenkrieg 2011 zum Erliegen gekommenen türkischen Projekte im Land. Noch am 31. desselben Monats wurde mit der Libyschen Zentralbank (CBL) ein MoU bezüglich einer Zusammenarbeit unterzeichnet. Damit nicht genug: ein nicht weiter spezifiziertes Abkommen im September sichert der Türkei die Verwaltung von Großprojekten zu und am 14. November wurde der Türkei die Sanierung des internationalen Flughafens von Misrata übertragen.

Die ‚Einheitsregierung‘ zahlt für ihren Machterhalt und die dafür notwendige militärische Unterstützung durch die Türkei einen sehr hohen Preis. Das westliche Libyen ist damit nicht nur militärisch, sondern auch finanziell und wirtschaftlich fest in neokolonial-türkischer Hand. Die in Tripolis agierenden Politiker wurden zu Empfehlsempfängern Erdogans deklassiert.

Durch die Einhaltung des Waffenstillstands und des damit einhergehenden militärischen Rückzugs sieht Erdogan seine militärischen und wirtschaftlichen Ziele in Libyen gefährdet, denn keines der getroffenen Abkommen mit der Tripolis-Regierung ist gültig, da nach libyschem Recht all diese Abschlüsse der Ratifizierung durch das libysche Parlament bedurft hätten.

Im östlichen Libyen wird die Türkei immer weiter aus dem Geschäftsleben verdrängt. Es wird berichtet, dass alle türkischen Restaurants in al-Baida geschlossen wurden und türkische Arbeiter abgeschoben werden. Darüber hinaus wurde die Schließung aller türkischen Restaurants in den von Bengasi, Derna und der LNA kontrollierten Städten im Westen und Süden Libyens angeordnet.[5]

Das libysche Bankenwesen unter türkischer Kontrolle

Die Türkei hat sich nicht nur Zugriff auf den libyschen Öl- und Wirtschaftssektor verschafft, sondern auch auf den Bankensenktor. Dies geschah durch die Besetzung maßgeblicher Posten mit Mitgliedern oder Sympathisanten der Moslembruderschaft. So ist Seddiq al-Kebir Chef der Libyschen Zentralbank (CBL) und hat aus dieser Position heraus eine ganze Seilschaft von Moslembrüdern in führenden Stellungen platziert, um den gesamten libyschen Finanzsektor zu beherrschen. Mit Öleinnahmen erzielte Milliarden wurden zur Finanzierung von Milizen, Waffenkauf, Bezahlung von Söldnern und Finanzhilfen für die Türkei ausgegeben. Bis heute fehlen Nachweise über den Verbleib von Summen in Milliardenhöhe. Profitiert haben kriminelle Milizen, korrupte Politiker, die Moslembruderschaft, die eng mit der Türkei verbandelte Geschäftswelt von Misrata und die Türkei. Al-Kebir wurde 2014 bereits das zweite Mal vom libyschen Parlament seines Postens enthoben, füllt dieses Amt aber nach wie vor aus, ungeachtet seiner krimineller Vergangenheit: Er war im Jahr 2004 zu drei Jahren Gefängnis wegen Veruntreuung verurteilt worden. Folgerichtig war al-Kebir für Sarradsch und die Türkei der richtige Kriminelle zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Um all diesen Umtrieben der CBL einen Riegel vorzuschieben, gehört zu den Vereinbarungen des Waffenstillstands der 5+5-Militärkomission auch, dass die Öleinnahmen auf einem Treuhandkonto zu belassen sind, bis eine politische Lösung in Libyen gefunden ist. Die Vorgänge innerhalb der CBL werden derzeit untersucht und bringen immer neue Ungereimtheiten an den Tag.

Geostrategische Begehrlichkeiten der Türkei

Die Kontrolle Libyens bedeutet für die Türkei auch, ihren Einfluss auf die subsaharischen afrikanischen Staaten ausweiten und sich Rohstoffe und Absatzmärkte sichern zu können. Im Östlichen Mittelmeer hat die Türkei mit Libyen ihre Hand auf den reichen Öl- und Gasressourcen. Und die Nähe zu Europa macht es möglich, die Flüchtlingsrouten zu kontrollieren. Die Türkei hat ihre Hand damit nicht nur auf den illegalen Schleuserrouten von der Türkei nach Griechenland, sondern auch von Libyen über das Mittelmeer nach Malta und Italien. Eine Entwicklung, die in der EU wegen ihres Erpressungspotentials größte Besorgnis hervorrufen dürfte.

Die syrischen Söldner

Die Türkei unterhält mit der sogenannten Freien Syrischen Armee in Idlib eine Proxyarmee, mit der sie ihre Militäreinsätze in Syrien, Libyen und zuletzt Berg-Karabach ausführt. Dieses Söldnerheer lässt sich für Auslandsabenteuer beliebig von einer Region zur anderen verschieben, ohne dass das eigene türkische Militär bluten muss. Die eingesetzten Kämpfer bestehen hauptsächlich aus syrischen Dschihadisten, die al-Kaida und dem IS nahe stehen. Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) sind bisher rund 18.000 Söldner nach Libyen entsandt worden, von denen etwa 10.750 nach Ablauf ihrer Verträge wieder nach Syrien zurückkehrten. Eine größere Anzahl syrischer Söldner wurde auch im Laufe der Kämpfe von der LNA getötet.

2020: Die Schlacht um Tripolis

Nach großen militärischen Erfolgen der LNA im Westen Libyens im Frühjahr 2020 und nachdem die LNA kurz davor stand, Tripolis vollends zu erobern, trat das Nato-Land Türkei massiv militärisch auf Seiten der ‚Einheitsregierung‘ in den libyschen Stellvertreterkrieg ein. Es wurden libysche Städte von türkischen Fregatten aus beschossen und über 10.000 syrische Söldner aus Idlib eingeflogen. IS- und al-Kaida-Dschihadisten kämpften Seit an Seit mit den meist kriminellen Milizen der ‚Einheitsregierung‘. Die LNA, unterstützt von Ägypten und den VAE, musste den wichtigen, im westlichen Libyen gelegenen Luftwaffenstützpunkt al-Watija aufgeben und sich aus der fast eroberten Hauptstadt Tripolis zurückziehen. Eine neue Frontlinie Sirte-al-Dschufra wurde von der LNA errichtet, bei deren Überschreitung durch die Milizen der ‚Einheitsregierung‘ Ägypten damit drohte, auf Seiten der LNA ebenfalls militärisch in den Konflikt einzutreten. Als Warnung flog die LNA Anfang Juli einen spektakulären Angriff auf den von der Türkei besetzten al-Watiya-Luftwaffenstützpunkt, bei dem vier türkische Türke Offiziere getötet und türkische Hawk-Luftabwehrsysteme zerstört wurden. Geheimverhandlungen zwischen den USA und Russland sollen der neuen Sirte-Dschufra-Frontziehung vorangegangen sein. Der LNA wurde im Gegenzug für den Rückzug hinter die neuen Linien und die Wiederaufnahme der Ölförderung die baldmöglichste Durchführung von Wahlen versprochen. Es ist allerdings kaum vorstellbar, dass die Türkei wirklich auf die Kontrolle des libyschen Erdölhalbmonds und die Ölfelder im Süden Libyens, die alle unter Kontrolle der LNA stehen, verzichten möchte, genauso wenig, wie sie sich kampflos aus dem westlichen Libyen zurückziehen wird.

Den hinter den Proxy-Kämpfern die Strippen ziehenden Mächten war nicht an einer weiteren Eskalation der Kämpfe gelegen, so dass sich die verfeindeten Parteien weitgehend an einen von Ägypten vorgeschlagenen Waffenstillstand hielten.

Herbst 2020: Türkei sabotiert Friedensgespräche

Obwohl bei den sogenannten 5+5-Militärgesprächen vereinbart wurde, dass bis zum 23. Januar 2021 alle ausländischen Unterstützer aus Libyen abzuziehen hätten, brach die Türkei nicht nur fortwährend das von den UN verhängte Waffenembargo, sondern baute auch ihre Militärstellungen weiter aus. Das türkische Parlament bestätigte im Dezember eine Verlängerung der militärischen Präsenz in Libyen um achtzehn Monate. Das arrogante türkische Verhalten im neokolonialen Stil, bei dem Libyer als untergebene Befehlsempfänger behandelt werden, wird in der Bevölkerung als demütigend empfunden. Die im Waffenstillstandsabkommen zwischen den Militärs der ‚Einheitsregierung‘ und der LNA ausgehandelten Vereinbarungen lehnte Erdogan offen ab.

Doch damit nicht genug. Wie sehr sie das Waffenstillstandsabkommen und den Friedensprozess sabotiert, bewies die von der Türkei beherrschte ‚Einheitsregierung‘ auch dadurch, dass sie weitere Militärabkommen mit Katar und Pakistan schloss, ungeachtet auch dessen, dass diese ohne Bestätigung durch das libysche Parlament keine Gültigkeit haben.

Spaltung innerhalb der ‚Einheitsregierung‘

Innerhalb der ‚Einheitsregierung‘ sind seither zwischen der Pro- und der Contra-Erdogan-Fraktion Machtkämpfe ausgebrochen, wobei die Pro-Erdogan-Fraktion auf die Unterstützung der Moslembruderschaft zählen kann, deren Milizen sie weiterhin ausbildet und aufrüstet. Insgesamt sind weite Teile der Milizen im westlichen Libyen und in Tripolis nicht an einem dauerhaften Waffenstillstand interessiert, ist es ihnen doch gelungen, die libyschen Institutionen teils mit offener Gewalt zu unterwandern. Ihre lohnenden, kriminellen und korrupten Geschäftsmodelle lassen sich nur im Zustand zusammengebrochener staatlichen Strukturen aufrechterhalten. Diese Milizen einzuhegen ist der ‚Einheitsregierung‘ nie gelungen, obwohl dies eine der Bedingungen im Skhirat-Abkommen zwischen der LNA und der ‚Einheitsregierung‘ von 2015 war.

Die gegenwärtige Situation

Der unrechtmäßig noch immer im Amt befindliche Premierminister der ‚Einheitsregierung‘ Sarradsch hat in der Bevölkerung keinerlei Rückhalt, sondern er wird als Marionette der fremden Mächte gesehen, die ihn mit Hilfe der UN in sein Amt hievten. Weder wurde Sarradsch gewählt, noch wurde er in seinem Amt vom Parlament bestätigt. Sein Mandat lief offiziell laut dem Skhirat-Abkommen am 17. Dezember 2019 aus. Unterstützt wird er nun von einer kleinen Minderheit und selbst diese Minderheit ist inzwischen gespalten, denn die offensichtliche Machtübernahme in Libyen durch die Türkei und Katar sowie das Einbringen ausländischer, dschihadistischer Söldner traf in den eigenen Reihen auf großen Widerstand. Wirklich das Sagen hat Erdogan allein in seiner Hochburg Misrata, während in Tripolis das reine politische und Milizenchaos herrscht.

Die Türkei wird als Besatzungsmacht gesehen, die sich als neuer Herr aufspielt, libysche Menschen demütigt und die Ressourcen des Landes in neokolonialer Manier ausplündert. Sarradsch selbst scheint jede Kontrolle über die Vorgänge im westlichen Libyen verloren zu haben, sehr zum Schaden der angestrebten libyschen Einheit und Souveränität, die die Türkei um jeden Preis verhindern muss, will sie das Land weiter ausbeuten. Um ihre Rolle weiter zu stärken, setzt sie nun auf die Moslembrüder Fathi Bashagha, Innenminister der ‚Einheitsregierung‘, und Salah ad-Din an-Namrusch, Verteidigungsminister, sowie andere der Moslembruderschaft nahestehende Politiker, die nicht das libysche Volk vertreten, sondern als Statthalter der Türkei und Katars in Libyen agieren. Einer von ihnen, Fathi Bashagha, ist allerdings gerade dabei, die Seiten zu wechseln.

Das gegenwärtig unter Leitung der UN-Sondermission für Libyen abgehaltene Libysch-Politische Dialogforum (LPDF), das den Libyern wieder einmal eine neue Übergangsregierung bescheren sollte, steckt in einer Sackgasse. Zu verdanken ist dies einem großen Fehler der UN-Sondergesandten Stephanie Williams, die in einem absolut intransparanten Auswahlprozess die Mitglieder des LPDF mit überwiegend Angehörigen und Sympathisanten der Moslembruderschaft besetzte. Ob der auch ausgehandelte Wahltermin zum 24. Dezember 2021 bestehen bleibt, erscheint fraglich. Und falls doch wird es sich um Wahlen handeln,die unter schwierigen Bedinungen stattfinden, vor allem, wenn die Türkei wie angekündigt noch bis Mitte 2022 in Libyen militärisch präsent bleiben will.

Da in Libyen die Moslembruderschaft in der breiten Bevölkerung keinen Rückhalt hat und bei Wahlen, wie bereits 2014 geschehen, gnadenlos unterginge, stehen demokratische Wahlen nicht auf der Wunschliste Erdogans.

Gerade hat eine ägyptische Delegation die libysche Hauptstadt besucht, um Gespräche mit Vertretern der ‚Einheitsregierung‘ zu führen. Ägypten hat angekündigt, seine Botschaft in Tripolis wieder eröffnen zu wollen. Es zeigt damit, dass es das westliche Libyen nicht der Türkei überlassen will.

Solange der Einfluss von Katar und die militärische Präsenz der Türkei in Libyen nicht beendet sind, wird es in Libyen nur schwerlich Frieden, Einheit und Souveränität geben.

[1] http://www.mlwerke.de/me/me08/me08_115.htm

[2] Washington Post vom 7.12.2011, nach: Karin Leukefeld „Flächenbrand. Syrien, Irak. Die arabische Welt und der Islamische Staat“, Köln 2015

[3] https://de.rt.com/international/110184-turkei-enfant-terrible-der-nato-sucht-autarkie/

[4] https://www.deutschlandfunk.de/bericht-des-ard-hauptstadtstudios-bundesregierung-sieht-die.2852.de.html?dram:article_id=363220

[5] https://almarsad.co/en/2019/06/30/bayraktar-killer-drones-run-by-turkish-military-experts-in-tripoli-exclusive-al-marsad-report/