In der Nacht vom 15. auf den 16. Mai befanden sich Tripolis und weitere westlibysche Städte erneut in Aufruhr. Immer mehr Minister und hohe Funktionsträger erklärten ihren Austritt aus dem Dabaiba-Kabinett. Am Abend des 17. Mai formieren sich erneut Demonstrationszüge in Tripolis und anderen Städten.
Einschätzung der aktuellen Lage durch Ibrahim Mussa.
Menschenmassen drängten sich Freitagabend auf dem zentralen Platz in Tripolis und forderten den Rücktritt der Dabaiba-‚Regierung‘. Der Premierminister und sein Kabinett müssten zur Rechenschaft gezogen werden. (Video) Unzählige Menschen strömten aus dem Großraum Tripolis, aber auch aus Zawija zum Märtyrerplatz, um den Sturz der Regierung zu fordern. Noch vor 23 Uhr wurden Stromzufuhr, Internetdienste und Telekommunikationsdienste gesperrt.
Zehntausende Demonstranten versammelten sich auch vor dem Sitz des Premierministers in der Sikka Straße, gegen die der Directorate Support Force mit gepanzerten Fahrzeugen vorging. (Video) Es wurde scharf geschossen. Dabei wurde ein Demonstrant getötet, fünf erlitten schwere Verletzungen, etliche wurden festgenommen, andere versuchten in den anliegenden Straßen zu entkommen. (Video)
Auch Abdel Monem, der Neffe des von Dabaiba in die USA ausgelieferten Abu al-Massud, nahm an den Protesten teil. Auf einem Plakat übermittelte er eine Botschaft seines Onkels Abu al-Massud an die Demonstranten: Lasst mich in mein Land zurück!
Befeuert wurden die Proteste als NBC News bestätigte, dass mit Wissen Israels ernsthafte Verhandlungen zwischen der Trump-Administration und den libyschen Behörden stattfinden, um eine Million Palästinenser aus dem Gazastreifen nach Libyen zu deportieren und im Gegenzug für die Dabaiba-‚Regierung‘ eingefrorene libysche Gelder in Milliardenhöhe freizugeben.
Während sich im Laufe der Nacht der Protest in Tripolis auf immer mehr Stadtviertel ausweitete, beteiligten sich auch andere Städte an dem Aufstand gegen die Dabaiba-‚Regierung‘, so in Adschilat (Video) und Sabratha. Bani Walid erklärte, sich keiner der politischen Strömungen und den daraus resultierenden Machtkämpfen anschließen zu wollen, sondern es sollten gleichzeitig faire Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abgehalten werden, von deren Teilnahme niemand ausgeschlossen werden dürfe.
Dabaiba allein zuhause
Derweil kündigten immer mehr Minister und Unterstaatssekretäre ihren Rücktritt aus der Dabaiba-‚Regierung‘ an, darunter Mohammed Ganaidi (Minister für Wasserressourcen), Nazhia Aschur (Unterstaatssekretärin des Justizministeriums), Generalmajor Baschir al-Amin (Unterstaatssekretär Innenministerium), Badreddine Tumi (Minister für lokale Angelegenheiten), Abubakr Ghaoui (Minister für Kommunalverwaltung/Wohnungsbau). Den Rücktritten schlossen sich an: Fathi Machmud (Unterstaatssekretär Bildungsministerium), Mohammed al-Huwaidsch und Ahmed Abuhaysa (Minister für Wirtschaft, Industrie und Bodenschätze), Baschir Haschim (Unterstaatssekretär Sportministerium), Mabruka Tughi (Kultusministerin), Taufiq Othman (Unterstaatssekretär Gesundheitsministerium).
Ramadan Abu Dschanah, vorheriger Stellvertreter Dabaibas, erklärte, dass sich die Regierung aufgelöst habe. Es gebe nur noch eine Facebook-Seite auf der der Präsidialratsvorsitzende Walid al-Lafi und der Berater und Bruder von Abdulhamid Dabaiba, Ibrahim Dabaiba, Erklärungen veröffentlichten, gesendet von einem unbekannten Aufenthaltsort.
Der Zentrale Gemeinderat von Tripolis forderte die Dabaiba-‚Regierung‘ dazu auf, das Volk anzuhören und den Bürgerwillen zu respektieren und das Recht auf Meinungsfreiheit zu achten.
Der Vorsitzende des Obersten Rates der Stämme und Städte des Südens, Ali Abu Sabiha forderte den Kommandanten der 444. Brigade, Machmud Hamza, dazu auf, sich von Dabaiba loszusagen und sich den Massen anzuschließen.
Die UN-Mission und die Arbeitsgruppe für Menschenrechte in Libyen zeigten sich besorgt über den Einsatz von scharfer Munition auf Demonstranten sowie vom Beschuss ziviler Objekte wie Wohnhäuser und Kliniken.
Während in Tripolis Aufrufe erfolgten, dass sich die Menschen auch im östlichen Libyen gegen die derzeitigen Machthaber erheben sollen und vor Versuchen gewarnt wurde, die Volksdemonstrationen in Konflikte zu verwickeln, die nur den an der Macht befindlichen Parteien dienten, die Libyen erneut in Chaos und Krieg stürzen wollten, forderte Parlamentspräsident Agila Saleh den Generalstaatsanwalt as-Siddiq as-Sour dazu auf, gegen den Tripolis-Premier Dabaiba ein Ermittlungsverfahren einzuleiten und ihm ein Reiseverbot zu erteilen.
Khaled al-Mischri (Staatsrat) erklärte die Dabaiba-‚Regierung‘ als gestürzt und forderte Parlamentspräsidenten Agila Saleh auf, innerhalb von 48 Stunden einen neuen Übergangspremierminister zu ernennen.
Der Sturz der Dabaiba-‚Regierung‘ bedeutet jedoch auch, dass die Hammad-‚Regierung‘ in Bengasi zurücktreten muss, um einer neuen Mini-Regierung, die das Land in Wahlen führen soll, Platz zu machen.
Libyens Nachbarn zeigten sich besorgt, Ägypten erklärte, die Lage genau beobachten zu wollen, Tunesien bot sich als Vermittler an.
Derweil erschien Abdulhamid Dabaiba wieder in der Öffentlichkeit. Er begab sich zu seinem Hauptsitz in der Sikka Straße. Bisher ist die Regierung noch nicht offiziell zurückgetreten. Hat die ‚internationale Gemeinschaft‘ noch keinen passenden Ersatz gefunden und muss Dabaiba noch im Amt gehalten werden, damit das Spiel weitergehen kann?
Die Menschen sind am Abend des 17. Mai erneut auf den Straßen. Demonstrationen starteten von Suk al-Dschumaa in Richtung Märtyrerplatz. Laute Sprechchöre wie „Das Volk will die Regierung stürzen“ ertönen. Auch in Zawiya, Tadschura, Wirschefana und Wakkala gehen die Proteste weiter. Die Demonstranten drohen mit einem umfassenden zivilen Ungehorsam, sollte die Stimme der Straße weiterhin ignoriert werden.
Ibrahim Mussa: Der Westen und sein Wunsch eines gescheiterten Libyens
Zum Aufruhr in Libyen nahm auch Ibrahim Musa (ehemals Sprecher von Oberst Gaddafi) Stellung. Der wahre Kampf fände nicht zwischen dem östlichen und dem westlichen Libyen oder zwischen verschiedenen Stämmen statt, sondern dabei ginge es um ein souveränes nationales Libyen im Gegensatz zu einem globalisierten System der Fragmentierung und externen Kontrolle.
Jeder Versuch, eine unabhängige nationale Strömung zu bilden – politisch, vom Volk oder von Intellektuellen ausgehend – sei durch Dämonisierung, Verrat, Isolation oder Mord im Keim erstickt worden, da eine nationale Strömung das vom Westen gewollte System gefährde. Der Westen wolle kein vereintes Libyen, das in seinem arabischen und afrikanischen Kontext verankert ist, sondern ein zersplittertes Mosaik, das aus der Ferne regiert werden kann. Ghaniwas Tod sei kein Bruch mit der Vergangenheit, sondern eine Wiederaufnahme des immer gleichen Spiels. Ghaniwa habe lediglich als Instrument ausländischer Mächte gedient. Als er aus persönlichen Gründen finanzielle und politische Grenzen überschritt, wurde er eliminiert. Ein Ersatz stehe bereit. Der nächste „Kunde“ warte auf seinen Einsatz.
Diesmal sei es um die Libyan Telecom Holding Company gegangen, eine lukrative und strategische Trophäe. Das nächste Mal könnte es um ein Ölministerium, einen Hafen, ein Waffendepot – oder etwas ganz anderes – gehen. „Und immer weiter so: Tripolis, eine Hauptstadt ohne Souveränität, ohne vereinte Armee, ohne nationale Vision – immer noch vom Ausland regiert.
Die bittere Wahrheit? Wir erleben ein ausgeklügeltes Kolonialprojekt – das nicht von ausländischen Soldaten durchgesetzt wird, sondern von Milizen, Botschaften, Unternehmen und einer parasitären Finanzklasse.“
Solange die Libyer diese Realität nicht erkennen und nicht mit dem Aufbau einer souveränen, unabhängigen Nationalbewegung begännen, die auf Einigkeit, Würde und der Befreiung von ausländischer Bevormundung beruht, werde Tripolis eine Stadt bleiben, in der Gewalt regiert, die Stück für Stück verkauft wird – unter schönfärberischen Begriffen wie „Stabilität“, „Übergang“ und „Demokratie“.
Libyen solle ein gescheiterter Staat bleiben, der von ausländischen Mächten über lokale Stellvertreter regiert wird und den geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen des Westens dient. Man dürfe nicht vergessen, dass das, was heute in Tripolis – und in ganz Libyen – geschieht, eine direkte Folge des Verbrechens von 2011 ist, als die NATO einen umfassenden Militärangriff startete, der den libyschen Staat vollständig zerstörte. Das Land sei Milizen übergeben worden, von Botschaften kontrolliert, mit Waffen überschwemmt und entlang von Stammes-, Regional- und Konfessionsgrenzen gespalten. Jede nationale Stimme sei zum Schweigen gebracht worden.
Alle Milizen, die heute Tripolis kontrollieren, seien nach dem Zusammenbruch des Jahres 2011 entstanden, bewaffnet und direkt finanziert von der NATO und den westlichen Mächten unter dem falschen Vorwand, sie würden „die Revolution unterstützen“. Die politische Klasse, die das Land heute regiert, sei nie gewählt worden. Sie wurde auf internationalen Konferenzen in westlichen Hauptstädten eingesetzt und erhielt ihre Legitimität durch vorformulierte UN-Resolutionen.
Neben Kriegsherren und Politikern sei ein dritter Akteur in Erscheinung getreten: eine deformierte libysche Kapitalistenklasse, organisch mit dem globalen neoliberalen System verbunden. „Diese parasitären Geschäftsleute gediehen im Chaos, wurden zu Maklern ausländischer Interessen und trugen durch Privatisierung, Spekulation und Korruption zur Zerstörung der nationalen Wirtschaft bei. Sie verwandelten das Land in einen offenen Markt für die Plünderung von Öl, Telekommunikation und öffentlichem Vermögen. Diese Klasse spielt heute eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung der Verschwörung. Sie finanziert fragile Parteien, kauft Milizen und treibt ‚Reformprojekte‘ voran, deren wahres Ziel darin besteht, unter dem Deckmantel von Entwicklung und ‚Institutionenaufbau‘ Abhängigkeiten zu schaffen.“
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