Die Autoren Wolfram Elsner und Wolfgang Krieger zeigen in dem Heft „Vom Industrie- zum Finanzkapital“ in einem historischen Abriss den Aufstieg, Zenit und Abstieg des Finanzkapitals auf.
Den Autoren ist es auf anschauliche Weise gelungen, die „Dialektik des Kapitals bei Marx abzuholen“ und in die „Aufstiegs- und Niedergangs-Prozesse des Finanzkapitals und seines Herrschaftssystems“ fortzuführen. Und so erklären sich die heutigen imperialen Kriege nicht mehr nur „aus den Gewinninteressen des militärisch-industriellen Komplexes, sondern aus den globalen geostrategischen Interessen des Gesamtsystems eines umfassend herrschenden Finanzkapitals“ .
Die Moderne und der Monopolkapitalismus
Die Schrift befasst sich zunächst mit dem Entstehen der Moderne im Zeitrahmen von 1750 bis 1981, als England zum Ausgangspunkt der kapitalistischen Industrialisierung wurde. Marx und Engels erschienen auf der Weltbühne, um das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital zu analysieren.
Die Zeit zwischen 1871 und 1944 beschreiben die Autoren als die Zeit der Moderne, des Monopolkapitals, Kolonialismus und Imperialismus. Als am Ende des Ersten Weltkriegs die USA begannen, die Alte Welt wirtschaftlich zu überholen, begannen sie auch, Einfluss auf Europa auszuüben. Nach dem Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg gelang es den USA, ein „durchgängiges internationales Finanz-Netzwerk zu installieren, welches zu einer dauerhaften Weltherrschaft verhelfen sollte“.
Bereits Marx habe die Entstehung des virtuellen Geld-Kapitals – das zunächst dem industriellen Kapital untergeordnet war, später aber in Widerspruch dazu geriet – analysiert. Laut den Autoren stand bei Marx stets die industrielle Produktion und der Industriekapitalismus im Mittelpunkt der Theoriebildung, obwohl „schon in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Ära des Finanzkapitalismus als bald dominierende Form der Moderne“ begann. Das Finanzkapital trat in „Widerspruch zum bestehenden industriellen Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital“, der gesamte Wirtschaftsprozess ordnete sich zunehmend dem Finanzkapital unter.
Mit dem Zusammenbruch des Alten Europas sei auch der Marxismus in eine Krise geraten, indem er seine Deutungshoheit verlor. Einen Grund dafür sehen die Autoren in der unzulänglichen Reflektion der Bedeutung des Finanzkapitalismus und der Verlagerung des Machtzentrums in die USA, das sich dort „an die Spitze von Macht, Reichtum und Kultur gesetzt“ hatte.
Der Triumpf des Finanzkapitals
Wie die Autoren ausführen, konnte das Finanzkapital in den Jahren 1944 bis 2008 in Folge der Nachkriegsordnung triumphieren. Dem dominanten Finanzkapital sei es fortan nicht mehr nur um Rohstoffbeschaffung und Warenabsatz gegangen, sondern um die Installation eines internationalen Finanzsystems. Das Schlagwort hierzu ist Bretton Woods, wo der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbankgruppe (WB) gegründet und der US-Dollar als Leitwährung installiert wurde. Um die Hegemonie zu erreichen, benötigten die USA nicht mehr die Unterwerfung anderer Staaten, sondern verlangt wurde nur mehr „Kooperation“. Dass dem auch die sozialistischen Länder zustimmten, führen die Autoren auf ein „gewisses Unverständnis für die angebrochene Dominanz des Finanzkapitals“ und deren Globalstrategie zurück.
Das Vertragswerk von Bretton Woods habe sich bis zur Immobilien- und Finanzkrise des Jahres 2008 stabil gezeigt.
Die Autoren erläutern die Auflösung der Golddeckung des US-Dollars 1970 und zeigen auf, wie seit den frühen 1980er Jahren der Casino-Kapitalismus ermöglicht wurde, indem gesetzliche Regelungen entfielen. Es konnte frei an den Börsen spekuliert, Schattenbanken und Hedgefonds gegründet und „innovative Produkte“ wie beispielsweise Credit Default Swaps gehandelt werden.
Um den US-Dollar abzusichern, trafen 1974 die USA mit Saudi-Arabien das Abkommen zur Einrichtung des Petro-Dollars, das vorschrieb, Ölgeschäfte nur über den US-Dollar abzuwickeln. „Das Agreement war auf 50 Jahre angelegt. Saudi-Arabien ließ es 2025 kommentarlos auslaufen.“
Versuche, wie sich 1990 die russischen Ressourcen anzueignen oder der Zugriff auf chinesische Ressourcen, die dazu dienen sollten, das infolge von Finanzcrashs gefährdete Finanzkapital abzusichern, seien gescheitert. Aktuell wolle man sich mittels Kriege in der Ukraine Seltene Erden sichern, oder im Iran auf die dortigen enormen Naturressourcen zugreifen.
Die imperialen Herrschaftssicherungsstrategien seien teuer. Eine Menge Geld müsse für Militär, Geheimdienste sowie internationale Interventions- und Regimechange-Organisationen ausgegeben werden, mit der Folge einer Überdehnung und enormer Staatsverschuldung mit Hilfe der Fed, „die fast beliebig Dollar drucken“ kann. Damit einhergehend sei das autoritäre System zum „autokratischen Gewalt- und Polizeistaat transformiert“ worden.
In der Phase des Neoliberalismus wurde es immer vorteilhafter, auch für Industriekonzerne, „Profite in spekulative Finanzanlagen an der Wall Street anzulegen, statt real zu investieren“. Dies hielt den Dollarkurs hoch.
2007/08 sei diese Blase geplatzt. Zwar wurden die alten Verhaltensweisen bald wieder aufgenommen, doch die Welt war eine andere geworden.
Die Welt, insbesondere der Globale Süden, versuchten, sich vom Dollar-System zu emanzipieren. „China, Russland, BRICS usw. bauen erfolgreich eine Gegen-Globalisierung auf“, während die USA wegen der drohenden Entdollarisierung verstärkt Kriegsschauplätze schaffen. „Eine Spirale nach unten.“
Der Widerspruch zwischen Reproduktion des Finanzkapitals und der Lohnarbeit gefährde heute existentiell die Lohnarbeit.
Der Niedergang der Moderne
Die Beschreibung und Gründe für den Niedergang der Moderne ab 2008 nehmen den Hauptteil der Schrift ein. Sie erläutern, dass im Kern das Finanzkapital ohne industrielle Mehrwertproduktion, ohne staatliches Vermögen, Industrieproduktion und Konsum auskommen könnte. Allerdings brauche es zu seiner Existenz die Ressourcen der Erde und auch noch Menschen, um sie in seinen Verwertungsprozess zu integrieren, zum einen als „realwertliche Rückfallposition für Finanzkrisen“, zum anderen als dünne „Basis für die eigenen multiplikativen ‚Produktionsprozesse‘ von innovativen Derivate-Pyramiden.“
Da in den „fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten die gesamt-wirtschaftliche Bedeutung des industriellen Sektors marginalisiert“ sei, habe auch das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital an Bedeutung verloren.
Für die zu erwartenden Krisen müsse aber eine realwirtschaftliche Absicherung des Finanzkapitals gegeben sein. Dies könne durch den Aufkauf von Weizenernten, Ländereien, Wasser, Solarparks etc. gewährleistet werden. Heute gehörten große Ländereien in Afrika aber auch weite Teile der ukrainischen Landwirtschaft der Wall Street.
Es sei jedoch eine allgemeine, durchschnittliche Profitrate im Rahmen von Finanzspekulation schon quantitativ nicht realisierbar, stellt man die virtuellen Werte im Billiardenbereich dem begrenzten Weltsozialprodukt gegenüber.
Die Autoren beschreiben das „Kunststück der Finanzakrobatik“, indem Blasen genutzt werden, um „vagabundierendes Kapital aufzusaugen“ und so gleichzeitig die Blasen zu vergrößern. Das Kunststück dabei sei, rechtzeitig vor deren Platzen in reale Werte umzusteigen. Wer dies nicht rechtzeitig schaffe, dessen „Spekulationsobjekte werden eingedampft“. Der Text nimmt Bezug auf die Staatsschuldenkrise und die erneute Finanzkrise 2018/19, die durch die Corona-Krise mit ihrer enormen öffentlichen Verschuldung abgewendet werden konnte.
Russland, China und Eurozentristische Linke
Die Autoren konstatieren, dass die Sowjetunion die Verlagerung der Geostrategie des Finanzkapitalismus von der militärischen auf die finanzstrategische Ebene nie ganz begriffen hat und somit der Sowjetmarxismus als Synonym für Dogmatismus – trotz aller Leistungen für nachfolgende Systemalternativen – verstaubte. Anders als in China, wo ein neues Denken über das Verhältnis Finanzkapital – industrielles Kapital – Staat zu einer gesamtgesellschaftlichen Produktionssteigerung führte und eine quasi-kapitalistische Industriegesellschaft ermöglichte. Die eurozentristische Linke mit ihrem simplistischen Vorstellungen eines Top-down-Staatssozialismus, der nie einen strategischen finanziellen Überschuss generieren konnte, habe seine Führung verspielt. Heute sei diese Linke „unfähig, „die aktuellen finanzkapitalistischen Verfallsformen der Herrschaft und ihre medialen Inszenierungen“ zu erkennen.
USA
Um nach der Finanzkrise den eigenen Niedergang abzuwenden, entschied das Imperium, „mit allen Mitteln des hybriden Krieges“ um den Erhalt des Status kämpfen. Es folgten die Kriege in der Ukraine, Syrien, Palästina und Iran, während ideologisch das „Ende der Geschichte“ ausgerufen wurde. Propagandistisch kam es zur „Jahrhundertinszenierung 9/11“ ebenso wie zur Behauptung, Saddam Hussein verfüge über Atomwaffen. Wichtig wurde es für den Westen, sich wirtschaftlich zu entkoppeln und chinesische Konkurrenz zu verhindern.
Der globale Süden
Als Schwellenländer versuchten, sich dem Druck von Dollar/IWF/WB zu entziehen, wurden sie unverzüglich mit Kriegen überzogen. „S. Hussein und M. al-Gaddafi waren schlicht ein bis zwei Jahrzehnte zu früh mit ihren Ideen, ihre Länder und Regionen vom Dollar zu lösen.“ Trotzdem sei diese Entwicklung nicht aufzuhalten, „immer größere Teile des globalen Südens wenden sich ab“, Brocken wie Russland und China seien zu groß, um sie schlucken zu können. Daneben schreite die Entdollarisierung voran. 2023 wurden nur noch etwa 55 Prozent der Weltreserven in US-Dollar gehalten.
Europa
Nach der strategischen Wende der USA habe die europäische Moderne ihre relative Selbstständigkeit verloren. Ab 1991 musste sie maximal nach Osten expandieren, der Balkan wurde wieder zum historischen Hinterhof degradiert, das wirtschaftlich zu starke Deutschland in einen Widerabstieg gezwungen. Der Plan sei, mittels Militarisierung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat den „Endsieg im Endkrieg“ gegen Erbfeind Russland zu erringen.
Unter dem neuen US-Präsidenten Trump sei ein erneuter Strategiewechsel erfolgt, die Gesamtbelastung des Ukrainekrieges soll nun die EU alleine tragen. Es bleibe „beim Niedergang der EU-Moderne zwischen Washingtoner erweiterter Aufgabenzuweisung, Liebesentzug und Erniedrigung.“
Kriege und Coronakrise
Unter der Überschrift „Endspiel und Dystopie“ zeigen die Autoren, wie im „aggressiven Abwehrkampf gegen den systemischen Niedergang“ Bestrafungs- und Verzweiflungskriege vom Zaun gebrochen wurden und „mediale Inszenierungen für Krieg und Faschismus“ einsetzten. Das Überleben des Wallstreet-Dollar-Systems musste gesichert werden.
Als 2019 eine neuerliche Finanzkrise im Anrollen war, konnte diese von der Corona-Pandemie überlagert werden. Im Namen der „Pandemiebekämpfung“ wurde überschüssiges Realkapital abgeschrieben und überflüssiges Finanzkapital etwas eingedampft. Nebenher erfolgte der Versuch, „polizeistaatliche Herrschaftsformen“ zu etablieren. Die „Grüne Transformation“ als Strategie einer bürokratisch-autoritären Herrschaftssicherung mit „jungen, geklonten Parteirekrutinnen“, dem Young Global Leader Program des Word Economic Forum entsprungen.
Donald Trump wird US-Präsident
Mit Donald Trump sei ein „Manager des Abstiegs“ US-Präsident geworden, der die Wirtschaft strategisch neu ausrichten soll, sprich den Bankrott managen. Was den Umgang mit China betrifft, seien sich die beiden großen US-Parteien jedoch einig, auch in der Haltung gegen Russland sei Trump auf die Linie des Tiefen Staates und zur NeoCon-Politik umgeschwenkt. Die Autoren bescheinigen Trump eine widersprüchliche Strategie sowohl im innenpolitischen als auch im Handelsbereich mit hohen Kollateralschäden. Der Verfall des Finanzkapitals lasse sich jedoch nicht aufhalten und werde durch den imperialen Kampf noch beschleunigt.
Dialektik des Finanzkapitals
In ihrem Entwurf einer Dialektik des Finanzkapitals schlussfolgern die Autoren, dass angesichts der Dominanz des Finanzkapitals eine „zeitgemäße Konkretisierung zentraler Kategorien wie Arbeit, Profit, Kapital, nationale Souveränität usw. gelingen kann“. Eine realistische „Analyse des (westlichen) nationalen und internationalen Herrschaftssystems des späten neoliberalen Finanzkapitals“ vor dem Hintergrund seiner inhärenten Krisentendenzen müsse geleistet werden.
Wolfram Elsner und Wolfgang Krieger
„Vom Industrie- zum Finanzkapital. Auf- und Abstieg eines Systems“
Schriftenreihe des Forum Gesellschaft und Politik e.V.
pad Verlag 2025, 62 Seiten, 7 Euro
Zu beziehen über: pad-verlag@gmx.net
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