Die Fragen nach den Gründen für den Rücktritt von Liz Truss und die Rolle von Khalifa Haftar, changierend zwischen Russland und USA, bieten einen Blick in den Abgrund der politischen Intrigen und Kabalen, die in Libyen einen positiven politischen Prozess verhindern.

Die französische Zeitschrift Jeune Afrique brachte in einem Artikel vom 20. Oktober 2022 den Rücktritt von Liz Truss als britische Premierministerin in Verbindung mit dem jüngsten Besuch des vom libyschen Parlament ernannten Premierministers Fathi Baschagha in London. Jeune Afrique fragt: Wurde Libyen Liz Truss zum Verhängnis?

Findet sich der wahre Grund für den Rücktritt von Liz Truss in Libyen?

Eine spezielle Rolle bei dem Verhältnis von Liz Truss und Baschagha scheint der Stabschef von Liz Truss, Mark Fullbrook, gespielt zu haben. Laut der britischen Times hatte Mark Fullbrook, die britische Regierung unter Druck gesetzt, Fathi Baschagha als legitimen Premierminister Libyens anzuerkennen. Wie bekannt, unterhielt Baschagha beste Verbindungen zu Großbritannien, dem er – sollte er denn in Libyens Hauptstadt Tripolis Einzug halten können – großzügigen Zugang zu den libyschen Erdöl- und Erdgasreservoirs versprochen hatte.

Dem stand allerdings Abdulhamid Dabaiba im Weg, der in Tripolis an seinem Amt als Premierminister, in das er von der internationalen Gemeinschaft mit krummen Methoden und mit Hilfe von Milizen gehievt worden war, festhielt. Und dies, obwohl er maßgeblich für die Absage der Wahlen im Dezember 2021 die Verantwortung trug, nicht zuletzt deshalb, weil er trotz anderslautender Abmachungen selbst für das Präsidentenamt kandidieren wollte. Für das libysche Parlament war die Amtszeit von Dabaiba am 24. Dezember 2021 abgelaufen.

Nachdem zunächst unklar war, ob sich Baschagha oder Dabaiba – der sich überraschender Weise plötzlich der Unterstützung der Libyschen Nationalarmee (LNA) und deren Befehlshaber Feldmarschall Haftars erfreute, die eigentlich als enge Verbündete des libyschen Parlaments galten – beim Machtkampf um den Premierministerposten durchsetzen wird, neigte sich nach mehreren vergeblichen Versuchen von Baschagha, in Tripolis Fuß zu fassen, die Waage deutlich auf die Seite von Dabaiba, der jetzt von der USA, der EU, der UN und nicht zuletzt von der in Libyen als Nato-Besatzungsmacht fungierenden Türkei unterstützt wird.

In Libyen wurden die Karten neu gemischt. Das Parlament als Verbündete Baschaghas scheint nun nicht mehr auf Baschagha als Premierminister zu bestehen, sondern der Parlamentsvorsitzende Aguila Saleh bemüht sich augenblicklich um eine neue Einigung mit Khalid al-Mischri, dem Vorsitzenden des Hohen Staatsrats, ein Ableger der Moslembruderschaft. Mit al-Mischri war vom libyschen Parlament auch schon Baschagha als Premierminister ausgehandelt worden, eine Abmachung, die sich aufgrund des Widerstands von Teilen der Mitglieder des Hohen Staatsrats nicht durchsetzen ließ. Nebenbei sei an dieser Stelle erwähnt, dass auch al-Mischri einen US-amerikanischen Pass besitzt und somit US-Staatsangehöriger ist.

Beide ‚Premierminister‘, sowohl Dabaiba als auch Baschagha, sind Kandidaten der Moslembruderschaft und des westlichen Bündnisses, das sich in einem Machtkampf gegenseitig – vermutlich sogar gewollt – blockiert.

Die verhängnisvolle Rolle der Briten in Libyen

Bei all diesen Mauscheleien spielt die britische Botschafterin in Libyen, Caroline Hurndall, die vom libyschen Parlament vor einiger Zeit bereits zur persona non grata erklärt worden war, eine tragende Rolle. Denn zunächst hatte sich Großbritannien bei den Auseinandersetzungen um die Premierministerbesetzung als neutral bezeichnet. Allerdings drängte der Stabschef von Liz Truss, Mark Fullbrook, der ehemalige Leiter einer Lobbyfirma, die britische Regierung dazu, Baschagha als Premierminister anzuerkennen. Fullbrock, der Liz Truss unterstützt hatte, versprach den Briten für die Anerkennung Baschaghas als libyschen Premierminister einen privilegierten Zugang zu den libyschen Erdölfeldern sowie die Eindämmung des Zustroms von Migranten nach Europa. Er organisierte ein Treffen und Fototermine mit Baschagha und den beiden Kabinettsmitgliedern Nadhim Zahawi und Kwasi Kwarteng. So war denn auch Finanzminister Kwarteng der erste aus der Truss-Regierung, der zurücktreten musste.

Als untragbar bezeichnete es der britische Guardian, dass der „engere Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten“ sogar via Satellit eine Sitzung mit Baschagha abgehalten habe. Fullbrooks Position als Stabschef in der Downing Street sei nach seinen Versuchen, die britische Außenpolitik zu beeinflussen, „nicht länger haltbar“ gewesen. Es war sicher im Sinne der USA, anschließend auch Liz Truss abzuservieren. Interessant, dass gerade ein französisches Pressemedium darüber berichtet.

Der so schnelle und plötzliche Sturz von Liz Truss lässt sinistere Hintergründe vermuten. Denn wenn eine unfähige, den USA devote Regierung das eigene Land in den wirtschaftlichen Ruin treibt, ist dies noch lange kein Rücktrittsgrund – wie man in Deutschland ja gerade besichtigen kann. Und Libyen, das in der öffentlichen Wahrnehmung kaum mehr eine Rolle spielt, ist dank seiner Bodenschätze und seiner geostrategischen Bedeutung gerade auch in Anbetracht des Ukraine-Krieges unverändert ein immens heißes politisches Eisen.

Es sei auch noch einmal erwähnt, dass Großbritannien zusammen mit den USA und Frankreich 2011 maßgeblich den Krieg gegen Libyen inszenierten und vor 2011 die Mitglieder vieler radikal-islamistisch orientierter Gruppen, die sich im Kampf gegen die Dschamahirija-Regierung und Gaddafi sahen, in Großbritannien eine große, gehätschelte Community stellten, deren Mitglieder 2011 nach Libyen ausreisten, um sich am Krieg gegen Libyen als Nato-Bodentruppen zu beteiligen.

Haftar, Russland und die USA

Doch wie positioniert sich die Libysche Nationalarmee beziehungsweise deren Befehlshaber Khalifa Haftar zu diesen Vorgängen? Bekannt ist, dass sich Haftar nach dem Rücktritt von Truss am 22. Oktober 2022 mit der britischen Botschafterin in Libyen, Caroline Hurndall, traf. Hurndall durfte in Haftars Büro in Bengasi zum Gespräch antreten.

Letzte Woche noch hatte Hurndall in Bengasi Gespräche mit Mitgliedern des libyschen Parlaments geführt.

Wie bereits erwähnt, hatte sich der zuvor engstens mit dem libyschen Parlament verbündete Haftar nicht auf die Seite des vom Parlament bestimmten Premierministers Baschagha gestellt, sondern auf die Seite des von den Westmächten anerkannten Premierministers Dabaiba, wobei die LNA betonte, sich nicht in die Kämpfe in Tripolis militärisch einmischen zu wollen.

Liest man einen Artikel im Washington Institute vom 21. Oktober 2022, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Khalifa Haftar nach wie vor seiner Rolle als schillernde Politfigur gerecht wird.  Als Oberkommandierender der Libyschen Nationalarmee im östlichen Libyen wird er wohl technisch von russischen Militärberatern unterstützt und schützen Kräfte des privaten russischen Militärdienstleisters Wagner die saharischen Ölquellen. Andererseits ist Haftar im Besitz eines US-amerikanischen Passes und gilt wegen seines langjährigen Aufenthalts nahe Langley (USA) immer noch als CIA gesteuert. Wobei sich seine Zusammenarbeit mit Russland und seine Steuerung durch die CIA ja keineswegs ausschließen.

Die Frage, wieso die USA eine Zusammenarbeit zwischen Haftar und Russland befürworteten, erklärt sich durch den Vormarsch radikal-islamistischer Gruppen wie al-Kaida in Libyen nach dem Sturz der Dschamahirija-Regierung und der Ermordung Muammar al-Gaddafis. Um ihre einstigen Proxy-Bodentruppen im östlichen Libyen zurückzudrängen, benötigten die USA eine schlagkräftige Armee im Osten, die nur mit der Unterstützung Russlands aufgebaut werden konnte. Das langfristige Ziel der USA bestand darin, das Staatswesen Libyen zu zerschlagen und in die drei Regionen Kyrenaika, Tripolitanien und Fessan aufzuteilen. Dazu mussten Landesteile geschaffen werden, die sich kriegerisch bekämpften. Heute ist diese Aufteilung nicht mehr haltbar, denn die Unterstützung verschiedener politischer Gruppierungen ist nicht nach Landesteilen getrennt, sondern geht querfeld durch alle Regionen mit ihren verschiedenen Stämmen.

 Washington Institut fragt zurecht, was nun die weiteren Schritte der US-Regierung sein werden – angesichts des Fehlens einer klaren und erklärten US-Strategie in Libyen. Die USA könnten versuchen, die Beziehungen zwischen der LNA und Russland mit Haftars Hilfe aufzulösen und die LNA auf die eigene Seite zu ziehen. Da wäre ein Abkommen zwischen der britischen Truss-Regierung und Baschagha selbstverständlich kontraproduktiv gewesen.

Angeblich soll es in der LNA Kritik an Russland wegen seiner nicht ausreichenden Unterstützung beim Marsch auf Tripolis im Jahr 2019 geben, als sich die LNA kurz vor ihrem Sieg zurückziehen musste und ein Waffenstillstand mit den militärischen Kräften der in Tripolis und Umgebung kämpfenden Milizen, unterstützt von der Türkei, vereinbart wurde.

Die Frage ist allerdings, inwieweit alle Kräfte der LNA bereit sind, in dieser Frage Khalifa Haftar zu folgen. Bekannterweise hat seinerzeit auch die Dschamahirija-Bewegung dazu aufgerufen, die LNA in ihrem Kampf gegen islamistische Extremisten von al-Kaida und gegen die Moslembruderschaft zu unterstützen, worauf sich viele ehemalige Militärs aus der Gaddafi-Ära wieder in die Dienste der libyschen Armee stellten. Keinesfalls vergessen ist dabei, welche Rolle der 2011 aus den USA nach Libyen geeilte CIA-Mann Khalifa Haftar auf Seiten der Nato im Krieg gegen die damalige Dschamahirija-Regierung spielte.

Und es kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass Russland dem US-Staatsbürger Khalifa Haftar kein allzu großes Vertrauen schenkt, auch in Hinblick auf dessen Ambitionen, selbst für das Amt des Premierministers zu kandidieren. Dabei steht dem 1943 geborenen Haftar sein Alter und sein angeschlagener Gesundheitszustand im Weg. Doch es ist nicht nur Russland, das die LNA und das Parlament stärken. Im Spiel sind dort auch noch so wirkmächtige Kräfte wie Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten, die sich im gegenwärtigen Ringen um globalen Einfluss mehr oder weniger gegen die USA positioniert haben.

USA – und die Aufrechterhaltung eines Schreckens ohne Ende

Auch den USA blieb es nicht verborgen, dass sich Khalifa Haftar als ihr Mann in Tripolis nicht wird durchsetzen lassen, auch wenn sie sonst ein Faible für senile alte Männer als Präsidenten zeigen. Das Augenmerk richtet sich deshalb auf seine beiden Söhne Saddam und Belgasim, wobei Saddam eindeutig der Vorrang gegeben wird. Saddam wird bereits als Nachfolger seines Vaters als Befehlshaber der LNA aufgebaut. Belgasim versuchte zuletzt mehrmals, sich den Anordnungen seines Bruders Saddam zu widersetzen – allerdings erfolglos. Es heißt, Saddam versuche nun, einige Stämme im Osten Libyens für seine Unterstützung zu mobilisieren. Der Versuch, eine Haftar-Erbfolge in der Befehlsgewalt der LNA zu etablieren, dürfte trotzdem innerhalb der LNA auf erheblichen Widerstand stoßen.

In Libyen umstritten ist die Annäherung von Saddam Haftar an Israel, das er im November 2021 in geheimer Mission besuchte und um politische und militärische Unterstützung bat. Als Gegenleistung bot er die Aufnahme künftiger diplomatischer Beziehungen zwischen Libyen und Israel und eine vertiefte Zusammenarbeit an. Es ist also stark zu bezweifeln, dass sich Saddam Haftar als Oberbefehlshaber der Militärs oder als Präsidentschaftskandidat großer Beliebtheit erfreuen könnte.

Kann es sein, dass die USA zwischenzeitlich in ihren eigenen intriganten Machtspielen verfangen sind und selbst nicht so genau wissen, wohin der Weg führen soll? Was bestenfalls gelingen kann, ist es, Libyen weiterhin und auf unbestimmte Zeit in seinem desaströsen Zustand ohne einen tragbaren Lösungsansatz für seine Probleme gefangen zu halten. Russland aus Libyen zu verdrängen, damit die Nato bleiben kann, liegt weit außerhalb der US-amerikanischen Möglichkeiten.

 

https://www.jeuneafrique.com/1386922/politique/demission-de-liz-truss-et-si-la-libye-avait-porte-la-poisse-a-lephemere-premiere-ministre/
https://libyareview.com/28282/haftar-holds-talks-with-british-ambassador/
https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/will-haftars-heir-be-ally-russians-or-americans