Die Bewerbung von Muammar al-Gaddafis Sohn, Saif al-Islam Gaddafi, ist ein Meilenstein auf Libyens Weg aus dem vom Westen verursachten Chaos. 

Traditionell gekleidet, mit Bart und Brille erschien der 49-jährige Saif al-Islam Gaddafi, Sohn von Muammar al-Gaddafi, mit seinem Anwalt Khaled az-Zaydi und Anhängern bei der Hohen Nationalen Wahlkommission (HNEC) in der südlibyschen Stadt Sebha, um seine Kandidaturunterlagen für die Wahl zum libyschen Präsidenten am 24. Dezember 2021 einzureichen. Anschließend richtete Saif al-Islam eine kurze Grußbotschaft an das libysche Volk:

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Saif al-Islam hebt sich schon allein dadurch von den anderen Kandidaten ab, dass er sich fernab der im Moment noch vom Ausland gesteuerten libyschen Zentren der Macht, Bengasi und Tripolis, registrieren ließ und in traditioneller Kleidung auftrat, ein Hinweis auf die enge Verbundenheit mit den libyschen Stämmen. Saif al-Islam hat die letzten elf Jahre gemeinsam mit der libyschen Bevölkerung durchlitten und den Schmerz über den Zusammenbruch des libyschen Staates mit ihr geteilt. Er ist nicht nur der Sohn von Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi, sondern ein Sohn Libyens. Er gehört keiner der in den letzten Jahre in Libyen um die Macht kämpfenden Parteien an und ist somit ein vertrauenswürdiger Vertreter der Interessen aller Libyer, glaubwürdig in seinem Wunsch, das Land und die Bevölkerung zu einen. Sein Bartwuchs dürfte seine Hinwendung zum Islam und seine religiöse Gesinnung ausdrücken, in seinem Grußwort heißt es, Gott werde über den richtigen Weg in die Zukunft Libyens bestimmen.

Bei Meinungsumfragen wurde stets Saif al-Islam Gaddafi als der beliebteste libysche Politiker benannt. Die Menschen schätzen und achten ihn wegen seines Verhandlungs- und Führungsgeschicks, das er schon während der Lebzeiten seines Vaters und der Dschamahirija-Regierung zeigte. So ist es nicht erstaunlich, dass es nicht nur in der Stadt Sirte zu Freudenfeiern kam, nachdem die Kandidatur von Saif al-Islam Gaddafi bekannt wurde.
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Bereits im Oktober hatte der Vorsitzende des libyschen Nationalen Rates für Nationale Sicherheit, Emad as-Sayeh, erklärt, Saif Al-Islam Gaddafi habe das Recht, bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Das vom Parlament erlassene Wahlgesetz sieht vor, dass ein Kandidat nicht von der libyschen Justiz rechtskräftig verurteilt sein und keine ausländische Staatsbürgerschaft besitzen darf. Ein Gericht in Tripolis hatte Saif im Jahr 2015 in Abwesenheit zum Tode verurteilt, im März 2021 hatte der Oberste Gerichtshof Libyens das gegen Saif al-Islam verhängte Todesurteil wieder aufgehoben.

Saif al-Islam ist der zweitälteste Sohn von Muammar al-Gaddafi, hat an der an der London School of Economics mit einer Arbeit zur „Rolle der Zivilgesellschaft für die Demokratisierung globaler Regierungsinstitutionen“ promoviert, bekleidete in Libyen keine öffentlichen Ämter, trat aber bereits in Dschamahirija-Zeiten als Reformer auf.

Nach der Ermordung seines Vaters und dem Sturz der Dschamahirija-Regierung durch die Nato wurde sein Fahrzeugkonvoi im November 2011 von Nato-Flugzeugen beschossen und er erlitt eine schwere Verwundung der rechten Hand, so dass Finger amputiert werden mussten. Saif wurde von der Abu-Bakr-as-Siddik-Miliz aus Zinten gefangen genommen. In der Stadt Zinten musste er fünf Jahre Gefangenschaft ertragen, über lange Zeiträume in Einzelhaft. Am 28. Juli 2015 wurde Saif al-Islam zusammen mit anderen politischen Gefangenen in Abwesenheit von einem islamistischen Gericht in Tripolis zum Tode verurteilt. Der Prozess wurde allgemein als unfair und nicht den internationalen juristischen Normen entsprechend bezeichnet. Zinten weigerte sich, Gaddafi nach Tripolis zu überstellen. 2017 trat das sogenannte Allgemeine Amnestiegesetz, vom libyschen Parlament erlassen und vom Justizministerium ratifiziert, in Kraft und führte zu Saifs Freilassung.

Gegen Saif al-Islam ist immer noch ein unter denkwürdigen Umständen zustande gekommener Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) anhängig. Der libysche Anwalt von Saif al-Islam Gaddafi, Khalid al-Ghuwail, erklärte, dass die Anklage keine legale rechtliche Grundlage habe, sondern dass es sich um einen politischen Prozess handle, der auf falschen Anschuldigungen beruht. Saif al-Islam Gaddafi hatte in der Gaddafi-Zeit und der Dschamahirija-Regierung keinerlei offiziellen Ämter inne, sondern agierte als Zivilist. Gegen den Strafbefehl hatten die Anwälte von Saif am 5. Juni 2018 beim IStGH eine Unzulässigkeitsklage eingereicht. Die Begründung lautete, dass Saif al-Islam Gaddafi am 12. April 2016 aufgrund eines libyschen Amnestiegesetzes aus dem Gefängnis in Zinten entlassen worden ist. Da der Fall vor einem libyschen Gericht verhandelt worden war, sei der IStGH nicht mehr zuständig, da Saif Gaddafi nicht zweimal wegen der gleichen Sache angeklagt werden könne. Doch im November 2018 weigerte sich die Chefanklägerin des IStGH, Fatou Bensouda, den Haftbefehl gegen Saif al-Islam aufzuheben. Der IStGH bestehe auf seiner Festnahme und Auslieferung nach Den Haag.1 Dabei hatte sogar Der Spiegel den deutschen Völkerrechtler Hans-Peter Kaul zitiert, der seinen Richterposten in Den Haag 2012 mit den Worten aufgab: „Er [Generalstaatsanwalt Ocampo] hat uns problematische Zeugen präsentiert, die nichts beitragen konnten, die nichts wussten. Auch war die juristische Argumentation oft dürftig.“ Der Spiegel zieht das Fazit, dass Ocampo mit seiner einseitigen Parteinahme im Libyenkrieg „den Gerichtshof mit seinem Aktivismus zum Spielball politischer Interessen gemacht“ hat.2

Im Oktober 2017 trat Saif al-Islam mit einer bemerkenswerten Denkschrift an die Öffentlichkeit mit dem Ziel, „einige Tatsachen klarzustellen, die in den letzten sechs Jahren zum Leiden des libyschen Volkes führten“ und in der Saif die furchtbaren Verbrechen beschreibt, die am libyschen Volk verübt wurden“. 3

Mitte 2020 soll der türkische Geheimdienst in Zusammenarbeit mit der damaligen ‚Einheitsregierung‘ in Tripolis und mit Hilfe bewaffneter Gruppen, die mit der Stadt Zawiya in Verbindung stehen, verstärkt versucht haben, Saif al-Islam zu ermorden oder zumindest zu fassen und an Den Haag auszuliefern, um seine politischen Aktivitäten endgültig zu beenden. Dies ist missglückt.

Ein erstes Interview gab Saif der New York Times am 30. Juni 2021 und deutete seine Bereitschaft für eine Präsidentschaftskandidatur an. Der Journalist Robert F. Worth schreibt: „Saif hat seine Abwesenheit vom öffentlichen Leben genutzt, um die politischen Strömungen im Nahen Osten zu beobachten und im Stillen die politische Kraft seines Vaters, die Grüne Bewegung, zu reorganisieren. […] Er glaubt, dass seine Bewegung die verlorene Einheit des Landes wiederherstellen kann“. Er zitiert Saif mit den Worten: „Sie haben das Land vergewaltigt – es liegt auf den Knien. Es gibt kein Geld, keine Sicherheit. Hier gibt es kein Leben. Gehen Sie zur Tankstelle – es gibt keinen Diesel. Wir exportieren Öl und Gas nach Italien – wir versorgen halb Italien mit Strom – und wir haben hier Stromausfälle. Das ist mehr als ein Versagen. Es ist ein Fiasko“. Die große Popularität Saifs muss Worth bestätigen: „Ich war erst ein paar Tage in Libyen, als ich auf einer Autobahnraststätte eine Rede von Oberst Muammar al-Gaddafi aus den 1980er Jahren sah, die vom Fernsehsender der Grünen Bewegung in Kairo ausgestrahlt wurde. Eines Abends, bei einem Iftar-Essen im Ramadan in Tripolis, fragte ich vier Libyer Anfang 20, wen sie zum Präsidenten wählen würden. Drei nannten Saif al-Islam. Eine libysche Anwältin erzählte mir, dass ihre eigenen informellen Versuche, die öffentliche Meinung zu ermitteln, darauf hindeuten, dass acht oder neun von zehn Libyern für Saif stimmen würden.“ Von vielen Libyern werde Saif als der „sauberste“ Kandidat angesehen und seine Rückkehr würde die Möglichkeit eröffnen, das Ende des letzten „verlorenen Jahrzehnts“ einzuläuten.“4

Saif al-Islam Gaddafi, der Vermittler zwischen verschiedensten politischen, in- und ausländischen Akteuren, der in der libyschen Stammeswelt ebenso zu Hause ist, wie er sich auf internationalem Parkett zu bewegen weiß, der in der alten Garde der libyschen Akteure ebenso verhaftet ist wie er die Moslembrüder aus Verhandlungen kennt, er ist die große Trumpfkarte, die dem libyschen Volk noch verblieben ist.

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2 Der Spiegel 40/2017, „Auf der falschen Seite“, von Sven Becker, Marian Blasberg, Dietmar Pieper
3https://www.freitag.de/autoren/gela/eine-philippika-von-saif-al-islam-gaddafi
4 https://gela-news.de/interview-mit-saif-al-gaddafi-in-der-nyt