Libyen/Gaddafi. Saif al-Islam: Nach 10 Jahren erstes Interview und Fotos des älter gewordenen und traditionell gekleideten Sohnes von Muammar al-Gaddafi.

Die NewYorkTimes titelt am 30. Juni2021: „Gaddafis Sohn lebt. Und er möchte Libyen zurückgewinnen.“ In dem Interview, das wohl schon im Mai dieses Jahres in Zinten (gut 130 Kilometer südwestlich von Tripolis) stattfand, spricht Saif al-Islam über seine Zeit in Gefangenschaft und die Möglichkeit seiner Kandidatur bei den libyschen Präsidentschaftswahlen im Dezember.

Saif sagte, er sei ein freier Mann. Diejenigen, die ihn vor zehn Jahren gefangengenommen hatten und seine Bewacher waren, seien jetzt seine Freunde. Er bereite sein politisches Comeback vor.

Der Journalist Robert F. Worth schreibt in dem NYT-Artikel: „Saif hat seine Abwesenheit vom öffentlichen Leben genutzt, um die politischen Strömungen im Nahen Osten zu beobachten und im Stillen die politische Kraft seines Vaters, die Grüne Bewegung, zu reorganisieren. Er hält sich bedeckt, ob er für das Präsidentenamt kandidiert, aber er glaubt, dass seine Bewegung die verlorene Einheit des Landes wiederherstellen kann. […] Sein Wahlkampfslogan ist der, der in vielen Ländern funktioniert hat, auch in unserem Land: Die Politiker haben euch nichts als Elend gebracht. Es ist Zeit für eine Rückkehr zur Vergangenheit. >Sie haben das Land vergewaltigt – es liegt in den Knien<, sagte er mir. >Es gibt kein Geld, keine Sicherheit. Hier gibt es kein Leben. Gehen Sie zur Tankstelle – es gibt keinen Diesel. Wir exportieren Öl und Gas nach Italien – wir versorgen halb Italien mit Strom – und wir haben hier Stromausfälle. Das ist mehr als ein Versagen. Es ist ein Fiasko<. Zehn Jahre nach der Euphorie ihrer Revolution würden die meisten Libyer wahrscheinlich Seifs Einschätzung zustimmen.“

Worth weist darauf hin, dass viele Libyer – wohl zu Recht – befürchten, dass der momentane Waffenstillstand nicht von Dauer sein wird und dass Saifs politische Ambitionen ernst zu nehmen sind. Saifs Unterstützer waren zuletzt bei den Gesprächen über die GNU-Übergangsregierung dabei und es dürfte schwierig werden, Saif von den Wahlen auszuschließen. Außerdem zeigten Meinungsumfragen in Libyen, dass sehr viele Libyer – bis zu 57 Prozent – Saif Vertrauen entegegen bringen. „Ein eher traditioneller Beweis für Saifs politische Überlebensfähigkeit wurde vor zwei Jahren erbracht, als ein Rivale 30 Millionen Dollar für seine Ermordung gezahlt haben soll. (Es war nicht der erste Mordanschlag auf ihn.)“

Die große Popularität Saifs muss Worth bestätigen: „Ich war erst ein paar Tage in Libyen, als ich auf einer Autobahnraststätte eine Rede von Oberst Muammar al-Gaddafi aus den 1980er Jahren sah, die vom Fernsehsender der Grünen Bewegung in Kairo ausgestrahlt wurde. Eines Abends, bei einem Iftar-Essen im Ramadan in Tripolis, fragte ich vier Libyer Anfang 20, wen sie zum Präsidenten wählen würden. Drei nannten Saif al-Islam. Eine libysche Anwältin erzählte mir, dass ihre eigenen informellen Versuche, die öffentliche Meinung zu ermitteln, darauf hindeuten, dass acht oder neun von zehn Libyern für Saif stimmen würden.“ Von vielen Libyern werde Saif als der „sauberste“ Kandidat angesehen und seine Rückkehr würde die Möglichkeit eröffnen, das Ende des letzten „verlorenen Jahrzehnts“ einzuläuten.

Wie der Artikel ausführt, war Saif zu Dschamahirija-Zeiten für Libyen häufig in diplomatischer Mission tätig, machte seinen Doktor an der London School of Economics, holte 2005 Human Rights Watch ins Land, damit sie ein angebliches Gefängnismassaker begutachten konnten, setzte sich für die Freilassung politischer Gefangener ein und „rief öffentlich zu Gefängnisreformen und einem konstitutionellen Regierungssystem auf“.

2011 habe Saif davor gewarnt, dass Libyen aufgrund seiner Stammesstrukturen leicht auseinanderbrechen könne. Er habe einen Bürgerkrieg, zerfallende Grenzen, Massenmigration und einen Zufluchtsort für terroristische Gruppen prophezeit. Worth gibt Saif in seiner Einschätzung Recht, dass die Verantwortung für die Zerstörung Libyens letztlich bei der Regierung von Präsident Barack Obama liegt.

Saif schildert Worth die Vorgänge des Jahres 2011 als „eine surreale Aufeinanderfolge von Krisen. Anfangs besuchte er seinen Vater fast jeden Tag in einem Zelt auf dem Gelände seines weitläufigen, von hohen Mauern umgebenen Geländes, das als Bab al-Aziziya bekannt ist. Gelegentlich traf er sich mit Mitgliedern des internationalen Pressekorps, die sich in einem Hotel in Tripolis verschanzt hatten. Saif sagt, er habe auch Anrufe von ausländischen Staatsoberhäuptern entgegengenommen, die in ihm wahrscheinlich eine Verbindung zu seinem Vater sahen. Ein häufiger Anrufer, so erzählte er mir, war der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. >Zuerst war er für uns und gegen die westliche Intervention<, sagte Saif. >Dann begann er, mich davon zu überzeugen, das Land zu verlassen<.“ Saif habe die Ansicht vertreten, dass der Krieg von 2011 aus dem Zusammentreffen lange schwelender interner Spannungen und opportunistischer ausländischer Akteure, darunter Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, entstanden sei. >Es waren viele Dinge, die gleichzeitig passierten<, sagte Saif, >ein perfekter Sturm<“.

Saif schildert auch seine Zeit in Gefangenschaft in Zinten. Er habe völlig allein in einem in die Wüstenerde gehauenen Kellerraum unter einem Haus in Zintan gelebt. Er wusste, dass er jederzeit sterben konnte, und sei religiöser geworden. Anfang 2014 bekam er Besuch von zwei Mitgliedern der Zintan-Brigade. Sie seien verbittert gewesen und verfluchten die Revolution, die sie nun als falsch einschätzten: Saif und sein Vater hätten die ganze Zeit Recht gehabt.

Nein, Saif distanziert sich in diesem Interview nicht von seinem Vater. Erstaunlich kann das nur der Interviewer finden. Saif sagte, es seien vielleicht „einige der sozialistischen Maßnahmen der 1980er Jahre zu weit gegangen, aber sein Vater habe dies erkannt und sie geändert.“ Und auch das Grüne Buch Gaddafis verteidigt Saif: „Es ging um Dinge, die heute jeder anerkennt.“ Alle möglichen Ideen, die im Westen populär geworden sind – öffentliche Volksabstimmungen, Pläne zur Mitarbeiterbeteiligung, die Gefahren des Boxens und Ringens – hatten ihren Ursprung in der Weisheit des Grünen Buches“.

Worths Artikel endet mit Saifs Worten: „Wir sind wie Fische, und das libysche Volk ist wie ein Meer für uns. Ohne es sterben wir. Von dort bekommen wir Unterstützung. Wir verstecken uns hier. Wir kämpfen hier. Von dort bekommen wir Unterstützung. Das libysche Volk ist unser Meer.“

Saif al-Islam Gaddafi stößt insgesamt bei seinem Interviewer auf wenig Verständnis. Denn obwohl Robert F. Worth viele Jahre in Libyen und in den arabischen Ländern verbracht hat, bleibt sein Blick auf diese Staaten ein westlicher. Es scheint ihm nicht möglich zu erkennen, was Muammar al-Gaddafi für die libyschen Menschen geleistet hat, welchen Reichtum und welchen Stolz er ihnen ermöglichte, aus welch bitterer Armut und Unwissenheit er sie holte. Wie heißt ein Sprichwort: „Man kann nur verstehen, was man liebt“. Eindeutig, Worth liebt Libyen nicht.

Man fragt sich, warum Worth dem Interview, das nicht wirklich ein Interview, sondern die äußerst subjektive Schilderung eines Eindrucks ist, Porträts des Moslembruders Fathi Bashagha und des Bangsters al-Kebir anschließt. In welches Licht soll Saif al-Islam Gaddafi damit gerückt werden? 

Seit 2011 hat der Westen ein arabisches Land nach dem anderen zerstört und deren Bewohner in die Hoffnungslosigkeit gebombt. Libyen war eines davon – mit vielen zehntausenden Kriegstoten.

https://www.nytimes.com/2021/07/30/magazine/qaddafi-libya.html