Libyen/Tripolis/Milizen. Die Verschleppung von Mohamed Baiyu und die wieder entbrannten Machtkämpfe in der libyschen Hauptstadt.

Am 21. Oktober 2020 stürmten in Tripolis Milizen der ‚Einheitsregierung‘, die sogenannten Tripoli Revolutionaries, das Haus von Mohamed Baiyus und verschleppten ihn. Baiyu (Baio/Baiyou) war erst kürzlich zum Leiter des Medienbüros der ‚Einheitsregierung‘ ernannt worden.

Nur wenige Stunden vor seiner Verschleppung erhielt Baiyu eine Sprachnachricht von einem Militärkommandanten der ‚Einheitsregierung‘ namens Ayoub Abu Raas, deren Mitschnitt er vor seiner Entführung an verschiedene Medien übermitteln konnte. Es war eine massive Drohung: „Guten Tag, Baiyu. Ich bin Ayoub Abu Raas. Wir haben uns in deine Arbeit nicht eingemischt. Aber du bewegst dich in die falsche Richtung. Unsere Freunde sind gestorben. Wir haben deine Ernennung nur akzeptiert und genehmigt, nachdem eine Menge Dinge geschehen sind. Aber du stellst dich gegen uns. Du ernennst Leute, die gegen uns sind, die Haftar und Karama unterstützen. Männer sind gestorben! Ich rate dir, deine letzten Entscheidungen noch einmal zu überdenken. Baiyu, lass mich dir etwas sagen. Wenn ich es will, mache ich dir dein Leben zur Hölle. Das sage ich dir! Ich rate dir, deine letzten Entscheidungen noch einmal zu überdenken und dann zu wissen, wen du ernennst. Das wäre für dich bedeutend besser, Baiyu. Das ist nur ein Klaps aufs Ohr.“
https://twitter.com/LibyaReview/status/1318920496331837442

Es gilt als sicher, dass Baiyu von den Tripolis Revolutionaries verschleppt wurde, da auf deren Website ein Bild von Baiyous veröffentlicht wurde, das vor deren Logo aufgenommen wurde. Auch zogen vor dem libyschen Rundfunk- und Fernsehgebäude in Tripolis, wo sich das Büro von Mohamed Baiyu befindet, bewaffnete Mitglieder der Tripolis Revolutionaries auf. Es handelt sich auch um keine Verhaftung, da die libysche Staatsanwaltschaft unter der Leitung von Al-Siddiq Al-Sour die Ausstellung eines Haftbefehls gegen Mohamed Baiyu ablehnte.

Mohamed Baiyu war erst am 10.9.2020 von Fayez as-Sarradsch zum Leiter des Medienbüros ernannt worden. Daraufhin forderte der Hohe Staatsrat, der von der Muslimbruderschaft kontrolliert wird, ebenso wie das Mitglied des Präsidialrats Mohammed Ammari Zayed, die Ernennung Baiyus rückgängig zu machen. Auch der Kommandant des Sirte-Dschufra-Einsatzgebiets schloss sich dieser Forderung an und bezeichnete Baiyu „als dem Kriegsverbrecher Haftar nahe stehend“.

Der Grund für die von Abu Raas ausgestoßene Drohung und die Verschleppung dürfte darin liegen, dass Baiyu gegen Suleiman Dough wegen Veruntreuung von 35 Millionen Libysche Dinar, die Dough von der Regierung Zidan zur Einrichtung eines staatlichen Nachrichtenkanals erhalten hatte, eine Untersuchung anstrengte. Dougha ist Direktor des libyschen Senders Al-Ahrar, der seinen Sitz in der Türkei hat. Wie man hört soll Sulaiman Dougha, der sich in der Türkei aufhält, über die gewaltsame Verschleppung von Baiyu höchst erfreut gewesen sein.

Was den Moslembrüdern und Hartlinern auch nicht gefallen haben dürfte war die Anweisung Baiyus an die Medienanstalten, Hassreden zu unterbinden. Sein Büro würde die Einhaltung dieser Anweisung überprüfen und bei Nichteinhaltung Maßnahmen ergreifen. In diesem Zusammenhang ist interessant zu wissen, dass auf dem World Press Freedom Index Libyen unter 180 Ländern auf Platz 162 rangiert.

Skandalöser Weise hat der Innenminister der ‚Einheitsregierung‘ und Moslembruder Fathi Bashagha bisher keinen Kommentar zur Verschleppung von Baiyu abgegeben. Es scheint ihm am Rücktritt oder der Entlassung Baiyus gelegen zu sein. Auch die Partei für Gerechtigkeit und Aufbau (Moslembruderschaft) hetzt in ihren Medien weiter gegen Baiyu und fordert seine Entlassung durch Sarradsch.

Es ist jedoch nicht nur Mohamed Baiyu verschleppt worden, sondern LibyaReview berichtet auch über Zusammenstöße zwischen verschiedenen Milizen der ‚Einheitsregierung‘ an der Küstenstraße im Westen von Tripolis und bereits am 20.10. wurden Kampfhandlungen in Wirschefana, westlich von Tripolis, gemeldet.

Wie erwartet, sind die verbissenen und gewalttätigen Machtkämpfe der Milizen in Tripolis und ihrer Unterstützer wieder voll entbrannt. Eine umfassende Schilderung der Zustände bis zum Jahr 2018 findet sich in dem Papier „Capital of Militias Tripoli’s Armed Groups Capture the Libyan State“[1] (Wolfram Lacher/Alaa al-Idriss). Als die LNA im April 2019 gegen Tripolis vorrückte, beendeten die Milizen in Tripolis ihre gegenseitigen Feindseligkeiten und schlossen wieder die Reihen, um gegen die LNA gemeinsam Front zu machen und die Rückeroberung Tripolis durch die LNA zu verhindern. Als 2020 die Einnahme der Hauptstadt mit Hilfe massiver türkischer Militärhilfe und syrischer Söldner verhindert wurde und sich die LNA auf die Verteidigungslinie Sirte-Dschufra zurückzog, brandeten die Kämpfe um Macht, Geld und Einfluss in Tripolis erneut auf. Die Situation hat sich durch die Intervention der Türkei und die Anwesenheit syrischer Söldner weiter verkompliziert. Keine Miliz wird ihren Griff von staatlichen Institutionen lösen, der ihnen satten Profit verspricht, wo jetzt sogar die Ölquellen wieder fließen. Wie schrieb Wolfram Lacher: „Die bewaffneten Gruppen von Tripolis wurden zu mächtigen kriminellen Netzwerken, was dazu führte, dass ihre Kommandeure mit Politikern, einflussreichen Geschäftsleuten und den Amtsinhabern von administrativen Schlüsselstellungen vernetzt sind“. Und es heißt dort auch: „Die UN und westliche Regierungen haben zu der jetzigen Situation beigetragen, indem sie den Präsidialrat der ‚Einheitsregierung‘ ermutigt haben, unter dem Schutz von ausgesuchten Milizen nach Tripolis zu kommen und die aggressive Expansion dieser Milizen in ganz Tripolis stillschweigend unterstützten.“ (S.16) Zu dieser Zeit war übrigens der deutsche Diplomat Martin Kobler der UN-Sondergesandte für Libyen, der sich in seiner Rolle gefiel, mit übelsten Dschihadisten dreckige Deals auszuhandeln. Man sollte aber nicht glauben, dass die westlichen Staaten aus ihren damaligen Fehlern gelernt haben.

Es ist klar, dass internationale Unternehmen, Firmen und Botschaften nach wie vor dieser von Gewalt erschütterten Hauptstadt fernbleiben. Denn: Jene Miliz, die einen Stadtbezirk mit militärischer Gewalt beherrscht, diese Miliz kontrolliert mit physischer Präsenz auch die Personen und Vorgänge innerhalb der Gebäude. So ist es ein ernstzunehmender Vorschlag, alle wichtigen staatlichen Verwaltungsinstitutionen von Tripolis nach Sirte zu verlegen, um sie so dem Zugriff der räuberischen und erpresserischen Milizen zu entziehen. Nicht gelöst ist damit das Problem, mit dem die zivilen Bewohner von Tripolis zu kämpfen haben, denn wie bekannt, sind Entführung und Erpressung auch ein wichtiges Geschäftsmodell der Milizionäre.

https://libyareview.com/7474/
https://libyareview.com/7494/
http://en.alwasat.ly/news/libya/298819
https://almarsad.co/en/2020/10/21/muslim-brotherhood-bayous-appointment-bashagha-ignores-his-kidnapping/
https://addresslibya.net/archives/60212

 

[1] http://www.smallarmssurvey.org/fileadmin/docs/T-Briefing-Papers/SAS-SANA-BP-Tripoli-armed-groups.pdf