In einer Stellungnahme zur Tragödie von Derna spendet der Präsidentschaftskandidat Dr. Saif al-Islam Muammar Gaddafi sich und dem libyschen Volk Trost und Hoffnung.

[Anfang der Übersetzung:]

Der Damm von Derna – der Große Damm

Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen

Wo immer du bist, der Tod wird dich finden, auch wenn du dich in hohen Türmen befindest

Die Katastrophe im östlichen Libyen und insbesondere die Tragödie von Derna erschütterten das libysche Volk und die ganze Welt. Es wurden nicht nur die Menschen getötet, die sich in der Nähe der Wadis aufhielten, sondern ganze Hochhäuser mit den darin Schlafenden wurden von der reißenden Flut ins Meer gespült.

Die Menschen in Libyen und überall auf der Welt fragten sich, wie so etwas geschehen konnte. Was war die Ursache?

Vor der al-Fatah-Revolution [des Jahres 1969] gab es in Libyen keine Wasser- oder Dammprojekte, die einzige Ausnahme bildete die Wasserleitung, die von Ain ad-Dabusija nahe Derna zum Königspalast in Tobruk führte. Derna selbst dürstete, ebenso wie Tobruk and alle anderen Städte, die ohne gesicherte Wasserversorgung auskommen mussten.

Nach der al-Fatah-Revolution wurden überall Wasserentsalzungsanlagen gebaut, der Great-Man-Made-River fertiggestellt und zum ersten Mal im ganzen Land Dämme errichtet. Etliche Dämme wurden in den 1970er Jahren gebaut, einschließlich der 18 großen Dämme an den wichtigsten, saisonal überfluteten Wadis in Ost-, Zentral- und Westlibyen. Ihr durchschnittliches jährliches Fassungsvermögen betrug mehr als 61 Millionen Kubikmeter. Als Beispiel sei der Wadi-al-Madschin-Damm genannt, der in Tripolis und seinen Vororten Menschenleben rettete und Gebäude vor Überflutungen schützte. Viele erinnern sich noch an die Flutkatastrophe von 1966, als Menschen dort ihr Leben verloren und Armenviertel zerstört wurden.

Neben dem Wadi-al-Qattara-Damm wurden auch der Wadi-Kaam-Damm, der weltweit größte Erddamm, und der Wadi-Derna-Damm in den Jahren 1973 bis 1977 gebaut. Vorher hatten die Fluten des Wadi Derna viele Opfer gefordert und großen Sachschaden angerichtet. Die katastrophalen Überschwemmungen der Jahre 1959 und 1968 kosteten in der Stadt Derna vielen Menschen das Leben.

Das, was aktuell in Derna geschehen ist, ließ mich an meinen letzten Besuch in der Stadt zurückdenken, an eine Zeit, bevor in unserem Land die Konflikte begannen. Derna glich einem Bienenstock, in dem viele Firmen ihre Aktivitäten entfalteten. Es gab ein Projekt zum Bau von 2.000 Wohneinheiten, das bereits zu sechzig Prozent fertiggestellt war. Ein Projekt diente der Errichtung einer Zementfabrik, ein anderes dem Ausbau des Hafens, der Derna mit Kreta und den griechischen Inseln verbinden sollte. Daneben existierten ein Industriezonenprojekt, ein Projekt zur Erzeugung von Strom aus Windkraft, das Martuba-Flughafenprojekt, das Projekt zur Sanierung der Altstadt sowie Gesundheits- und Bildungsprojekte.

Die Stadt Derna ist die Stadt der Gegensätze. Hier erblickten großartige Künstler, Intellektuelle, Bankiers, Ärzte und Ingenieure das Licht der Welt. Es war eine Kunst- und Kulturmetropole. Doch gleichzeitig brachte die Stadt auch die übelsten und brutalsten Bewegungen hervor, eine Wiege verwirrten Denkens. Hier wurden wir zum ersten Mal Zeuge, als Libyer von Libyern geköpft und abschlachtet wurden. Es begann in den 1990er Jahren mit der Massakrierung von Studenten der Polizeiakademie und ging weiter, als 2011 die Leichen von Polizisten und Soldaten durch die Straßen geschleift und gehängt wurden. In den Höfen der al-Atiq- und der as-Sahaba-Moschee wurden etliche Stadtbewohner geköpft.

2011 nahm in Derna der Aufruhr seinen Anfang. Hier begann die bewaffnete Rebellion, unter deren Folgen wir heute zu leiden haben. Die Anzahl der Toten, die jetzt bei der Derna-Flutkatastrophe starben, entspricht in etwa der Anzahl derjenigen, die Opfer in jedem der letzten Kriege waren, und sie gleicht der Anzahl der Menschen, die aufgrund der Verbreitung von Waffen und der Abwesenheit von Institutionen durch Mord und Totschlag getötet wurden.

Es ist die gleiche Stadt, die im Jahr 2023 die Libyer wieder zusammenführte, ihren Groll beiseiteschob, ihr Gewissen aufrüttelte, so dass sie aus einem Alptraum erwachten und wieder zu in Liebe vereinten Brüdern wurden.

Das ist Derna. Dieses Schicksal hat Gott ihm bestimmt. Gottes Wille ist unabänderlich.

König Hassan II. ermahnte weise: „Geschichte ist wie der Rückspiegel in einem Auto. Der Fahrer muss gelegentlich zurückblicken, um sicher vorwärts zu fahren“. Lassen wir deshalb die Vergangenheit hinter uns. Kümmern wir uns um die Gegenwart und entscheiden wir für die Zukunft.

Das, was gerade in Derna geschieht, erinnert mich bezüglich der über den Damm verbreiteten Gerüchte sowie der diesbezüglichen Verschwörungstheorien und deren Verfechter an die Behauptungen, es hätten 5.000 Vergewaltigungen stattgefunden und Faschluman und Tadschura wären bombardiert worden, und auch an den Prozess wegen meines angeblichen Drogenhandels, für den ich zum Tode verurteilt wurde … Hiermit sage ich euch: Das sind alles unwahre Geschichten. Was wirklich passierte, ist, dass 2011 der große libysche Damm, der libysche Staat, zusammengebrach. Und das ist der wahre Grund für das, was in Derna passierte.

Heute gibt es keine staatlichen Institutionen mehr und keine Spezialisten vor Ort. Als es noch einen Staat gab, gab es auch Angestellte, die den Damm beaufsichtigten und überwachten, periodisch Messungen vornahmen und jede Gefahr meldeten. Wir erinnern uns an einen Angestellten namens Buchwal Buruiq Buhiub, dessen Aufgabe es war, vor jeder Gefahr frühzeitig zu warnen. Man bedenke, dies war zu einer Zeit, als es keine moderne Kommunikationstechnik gab.

Ein gutes Beispiel ist die Flut von 1986 und die Maßnahmen, die getroffen wurden, um die Katastrophe zu bewältigen. Obwohl sich Libyen damals in einem Fast-Kriegszustand mit den USA befand, konnte die Überschwemmung dank der regelmäßigen Überwachung durch die staatlichen Institutionen eingedämmt werden. Ein spezielles Notfallkomitee der Sicherheitsdienste war gebildet worden, das die gemeldeten Schäden überwachte. Später, im Jahr 2003, beauftragte der Staat eine Schweizer Beratungsfirma (Stucki), die die Dämme im Wadi Derna begutachtete und beurteilte, wie die Anlagen instand zu halten und auszubauen sind. Basierend auf diesen Gutachten wurde 2007 die türkische Firma Arcel beauftragt, die Arbeiten laut den Analysen und Empfehlungen des Schweizer Büros auszuführen.

Das Unternehmen hatte die erste Tranche des im Vertrag festgelegten Preises erhalten, die Baustelle übernommen und mit der Durchführung der im Vertrag festgelegten Arbeiten begonnen. Prüflabors wurden errichtet und Ausrüstungsgegenstände vor Ort gebracht. Doch die Arbeiten wurden 2011 eingestellt.

Als die Firma nach 2011 nach Derna zurückkam, waren die Prüflabors abgebrannt und die Gerätschaften samt Maschinen gestohlen. Das Unternehmen reichte bei einem internationalen Schiedsgericht eine Klage auf Entschädigung für das gestohlene Eigentum ein.

Zusätzlich zu den verschwundenen Haushaltsmitteln für den Derna-Damm wurden nach 2011 für alle Dämme im Land schätzungsweise Hunderte von Millionen ausgewiesen. Nur ein Beispiel ist der Derna-Damm, für den Mittel für die Instandhaltung und den Ausbau bereitgestellt wurden, wobei das türkische Unternehmen durch ein einheimisches Unternehmen und das schweizer Büro durch ein arabisches Büro ersetzt wurden. Bis heute wurde der Vertrag nicht umgesetzt.

Die gleiche Situation zeigt sich am Meteorologischen Zentrum. Es kann nicht arbeiten, weil zweimal die Ausstattung gestohlen wurde, das erste Mal 2011, das zweite Mal 2015.

Unglücklicherweise erfuhren die Libyer aus dem Fernsehen und von internationalen Radiosendern, dass ein Hurrikan die Stadt Bengasi treffen werde. Doch es stellt sich heraus, dass der Sturm drehte und von hinten die Stadt Derna traf. Es mangelte in Libyen an einer angemessenen Wettervorhersage und der entsprechenden Berichterstattung. Die Küstengebiete wurden evakuiert, die Bewohner der Küstenstädte flohen ins Landesinnere. Doch die große Flut, die sie überrollte, kam aus dem Süden, von der Landseite. Dies alles beruhte auf einem Irrtum. Es war keine Absicht, sondern verursacht durch die Abwesenheit des Staates und seiner Institutionen sowie der Anarchie, die im Land herrscht.

Und wirklich: Der Tod, den Du fliehst, er wird dich finden.

Das gleiche passierte bei den Sicherheitsbehörden, die die Bewohner aufforderten, ihre Wohnungen nicht zu verlassen. Dies trug zur Katastrophe bei, obwohl die Behörden im guten Glauben handelten. Es war nicht ihr Fehler, sondern ein Irrtum. Der vorrangige Fehler war, dass es keinen Staat gab.

Es gab keine Aufsicht, keine Beobachter, einfach niemanden, der am Damm Wache hielt, so wie es in der Vergangenheit der Fall gewesen war. Es gab auch kein genaues und richtiges, örtliches, meteorologisches Bulletin und keine Behörde, die die richtigen Maßnahmen hätte ergreifen können, um die Bevölkerung zu warnen und zu evakuieren.

Das, was geschah, als der Nova-Kakhovka-Damm in der Ukraine in die Luft gesprengt wurde und 80 Dörfer überflutet wurden, ist der beste Beweis. Denn obwohl sich die Ukraine im Kriegszustand befindet, ist es nicht vergleichbar mit dem, was in Libyen passierte. Denn in der Ukraine gab es frühzeitig Warnungen, es wurden Evakuierungen durchgeführt und die Behörden waren vor Ort.

Wir können die Zeit nicht zurückdrehen und das große Sterben und die Zerstörungen rückgängig machen. Es ist geschehen und das war Gottes Wille.

Jetzt müssen wir an die Zehntausende obdachlosen und evakuierten Menschen denken, die ohne Schutz, ohne Geld, ohne Fahrzeuge dastehen. Menschen haben ihre Wohnungen, ihre Autos, ihre Tiere, ihre Lebensgrundlagen und Ersparnisse verloren.

Es sei euch versichert, dass ihre Probleme nicht gelöst werden und dass sie nichts bekommen werden, einfach weil es in Libyen keinen Staat gibt, auch wenn zusätzlich zu den Anstrengungen der ausländischen Hilfsteams die örtlichen Hilfs- und Rettungsmaßnahmen in der Geschichte Libyens beispiellos sind.

Wo sind die zwei Milliarden US-Dollar, die vor zwei Jahren Derna für den Wiederaufbau aufgrund der Zerstörungen durch die aufeinander folgenden Kriege zugewiesen wurden? Jene, die es versäumten, die vor zwei Jahren versprochenen zwei Milliarden US-Dollar für den Wiederaufbau von Derna auszugeben, werden auch jetzt nicht fähig sein, die zehn Milliarden auszugeben, die der Stadt heute versprochen werden.

Die Menschen in Libyen zahlen den Preis für den absurden, kindischen Konflikt zwischen Regierungen, die im Land verstreut sind … fiktiven Regierungen, denen es nur um illegale Gewinne geht, Regierungen, die sich damit brüsten, Geschenke und Wohltätigkeiten aus der ganzen Welt zu erhalten, während wir ein Land sind, das jährlich Hunderte von Millionen Dollar für das Chartern von Privatjets, Luxushotels und den Sold für Söldner in Ost und West ausgibt.

Man betrachte Marokko, die Türkei und Oman. Marokko begegnete dem Erdbeben, indem es Wiederaufbauprojekte für 50.000 vom Erdbeben betroffene Familien bewilligte. Wie letzten Donnerstag angekündigt wurde, erhalten sie auch Finanzhilfen in Höhe von je 3.000 US-Dollar. Finanzielle Unterstützung in Höhe von 14.000 US-Dollar werden jene Familien erhalten, deren Wohnungen durch das Erdbeben völlig zerstört wurden. Familien, deren Wohnungen nur teilweise beschädigt sind, sollen 8.000 US-Dollar erhalten.
Man betrachte die Türkei und den Wiederaufbau, den sie nach dem Erdbeben geleistet hat und wie sie die Opfer entschädigte. Und ebenso Amman, das von einem Hurrikan getroffen wurde, der um ein Vielfaches stärker war als der von Derna. Und er war nicht der erste, ihm gingen vier verheerende Wirbelstürme voraus. Das Land hat jedoch alles selbst in die Hand genommen, einschließlich der Entschädigung und des Wiederaufbaus, und sich geweigert, auch nur einen einzigen Dollar an ausländischer Hilfe anzunehmen.

Die heute in Libyen Verantwortlichen prahlen, dass sie Decken-, Milch- und Lebensmittelspenden erhalten haben. Sie sollten sich an die Worte des Staatschefs von 2011 erinnern, als er trotz der erdrückenden Belagerung und der Bombardierung sagte, dass Libyen nicht bereit sei, seine Hand nach Almosen auszustrecken. Wir sind ein Land, das selbst in der Lage ist, sein Volk zu versorgen

Ich versichere euch, dass das Problem der Obdachlosen nicht gelöst werden wird, dass Derna nicht wiederaufgebaut wird, und dass sein Damm, der vor fünfzig Jahren gebaut wurde, nicht wiedererrichtet wird. Ebenso wie Bengasi, Sirte, Tawerga und das südliche Tripolis zerstört und bis heute nicht wiederaufgebaut wurden, trotz anderslautender Versprechungen.

Die Coronapandemie ist ein gutes Beispiel. Das reiche Libyen beteiligte sich am COVAX-Programm für arme Länder, die Hilfe im Kampf gegen Corona benötigten. Alle Impfstoffe waren Spenden aus dem Ausland. Leider wurde nach Aussagen der Geberländer der größte Teil dieser Hilfslieferungen auf dem Schwarzmarkt verkauft, und ein Teil davon befindet sich aufgrund von Missmanagement immer noch in den Lagerhäusern. Diese bitteren Erfahrungen sind der Grund dafür, warum Länder unwillig sind, Gelder an libysche Behörden zu zahlen.

Doch so, wie die mächtige Flut die Stadt Derna zerstörte, so zerstörte sie auch die verachteten regionalen Namen wie Kyrenaika, Fessan, Tripolitanien, Araber des Ostens, Araber des Westens. Und sie begrub unter den Fluten Hass, Zwietracht und Spaltung.

Wie das Sprichwort sagt, gibt es kein Unglück ohne Segen, und so wie auf Regen Sonnenschein folgt, so stellte diese Flut Libyens Eintracht wieder her. Sie schweißte uns wieder zusammen und es ist wieder so, wie es vor 2011 war. Wir sind Brüder, in Liebe verbunden …. ein Volk, ein Glaube, ein Schicksal. Unser Leid ist ein gemeinsames Leid und wir haben dieselben Wunden.

Derna hat der Welt gezeigt, dass wir ein Volk sind, ein Volk, das sich versöhnt hat und dies auf die schönste Weise zeigt.

Nach dem Schrei um Hilfe für das verwundete Derna ertönt ein erneuter Hilferuf an unser großartiges libysches Vaterland. Lasst uns den größten aller Dämme bauen, stärker als jemals zuvor. Lasst uns Libyen wieder aufbauen.

Gott gab Dhul-Qarnayn alle Mittel der Macht, aber er bat die Menschen um Hilfe, als er einen großen Damm zwischen ihnen und dem Bösen errichtete.
Oh, Dhul-Qarnayn, in der Tat treiben Gog und Magog ihr Unwesen auf Erden. Sollen wir einen Tribut fordern, weil ihr eine Barriere zwischen uns und ihnen errichtet habt? (49)
Er sagte: „Was der Herr mir gewährt hat, ist besser. So helft mir mit aller Kraft, um einen Schutzwall zwischen euch und ihnen zu errichten“ (59).

So helft euch selbst und wartet nicht auf die Hilfe anderer. Vertraut auf Gott and beginnt, euer Land aufzubauen, damit es wieder ein liebenswertes, großzügiges und starkes Land wird, das seinen Platz unter den Nationen einnimmt.

Friede sei mit denen, die sich leiten lassen.

Saif al-Islam Muammar Gaddafi

22/09/2023