Nach der Abwahl von al-Mischri als Staatsratsvorsitzenden soll auch gegen den Parlamentspräsidenten Saleh und Parlamentarier vorgegangen werden, die die Absetzung der Dabaiba-‚Regierung‘ betreiben.

Aufgrund der aktuellen Vorgänge rund um die Neuwahl des Vorsitzenden des Hohen Staatsrats und des Parlaments finden libyschen Berichten zufolge gerade nationale und internationale Konsultationen statt mit dem Ziel, Sanktionen gegen den Parlamentspräsidenten Aguila Saleh und Parlamentarier zu verhängen, sollten sie Wahlen und die Arbeit des 6+6-Aussschusses behindern. Laut den Berichten sollen auch diejenigen sanktioniert werden, die zur Bildung einer Parallelregierung aufrufen.

Der UN-Sonderbeauftragte für Libyen, Abdullah Bathily, nahm an einem Gesprächsforum in der westlibyschen Großstadt Zawiya teil, bei der auch Bürgermeister der zentralen, westlichen und südlichen Stadtbezirke von Zawiya sowie Vertreter der Jugend und der sozialen, politischen und sicherheitspolitischen Kräfte der Stadt anwesend waren. Bathily rief dazu auf, „all jene zu bestrafen, die den Wahlprozess in Libyen behindern“. Libyen müsse seine Grenzen und sein Land sichern. Dies bedeutet für die Europäer vor allem, dass die Durchreise von Migranten, durch die Putsche und Kriege in den Sahelstaaten befeuert, in den Griff bekommen werden soll.

Was darunter zu verstehen ist und wer hinter diesen Forderungen steht, geht aus Äußerungen der Sprecherin der britischen Regierung für Angelegenheiten des Nahen Ostens und Nordafrikas, Rosie Diaz, hervor, die die Bildung einer neuen Übergangsregierung in Libyen strikt ablehnt.  Eine neue Übergangsregierung würde zu einer neuen Übergangszeit führen, ohne das Land in Richtung Wahlen zu bewegen.  Die britische Diplomatin betonte, dass diejenigen, die die Stabilität bedrohen oder den politischen Prozess in Libyen untergraben, zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Der vom 6+6-Ausschuss vorgelegte Fahrplan könne zur politischen Stabilität in Libyen beitragen und dadurch viele Probleme Libyens lösen, insbesondere das Dilemma der Migration im Mittelmeerraum.

Wieder einmal riefen die USA, Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland die libysche Führung dazu auf, baldmöglichst Wahlen abzuhalten.

Die wichtigsten politischen Gremien, die von jeweiligen ausländischen Kräften gelenkt, momentan die Politik in Libyen bestimmen, sind: das Libysche Parlament mit ihrem Präsidenten Aguila Saleh, der Hohe Staatsrat (HCS) bisher unter Khaled al-Mischri, die Dabaiba-‚Regierung‘ (Regierung der Nationalen Übereinkunft/GNA) in Tripolis und die Libysche Nationalarmee (LNA) unter Khalifa Haftar im östlichen Libyen. Daneben existiert noch ein Präsidialrat unter der Leitung von Muhammad al-Menfi. Frei nach dem Motto: Viele Köche verderben den Brei. Oder: Je mehr Spaltung, desto mehr Spieler für ausländische Einflussnahme.

Der Hohe Staatsrat

Die Einsetzung des Hohen Staatsrats wurde im Skhirat-Abkommen vom Dezember 2015 von der sogenannten internationalen Gemeinschaft und der UN beschlossen. Der Grund dafür war, dass die Moslembruderschaft, die 2011 die Hauptkampfgruppe gegen die damalige Dschamahirija-Regierung gestellt hatte, bei Wahlen komplett untergegangen war. Es sollte den von der Türkei unterstützten Moslembrüdern ihr Einfluss auf das politische Geschehen in Libyen in Form des Staatsrats gesichert werden.

Am 06. August diesen Monats wurde nun in einer dramatischen Stichwahl der langjährige Vorsitzende des Staatsrats, al-Mischri, abgewählt und der vom Premierminister der Regierung in Tripolis, Dabaiba, favorisierte Kandidat Muhammad Takala mit 67 zu 62 Stimmen zum neuen Vorsitzenden gewählt. In der ersten Runde der Wahlen hatte al-Mischri noch mit 49 Stimmen geführt, während Takala mit 39 Stimmen bei 129 anwesenden Mitgliedern unterlag. Damit war der Gegenspieler Dabaibas, al-Mischri, der sich mit Parlamentspräsident Aguila Saleh verständigt hatte, ausgeschaltet.

Muhammad Takala gehört ebenfalls der Moslembruderschaft an und ist Mitglied deren Partei für Gerechtigkeit und Aufbau. Er gilt als Kollaborateur mit der türkischen Besatzungsmacht im westlichen Libyen.

Der 6+6-Ausschuss und die Wahlgesetze

Der Wahl vorangegangen war ein vom 6+6-Ausschuss, der aus je sechs Mitgliedern des Parlaments und des Staatsrats besteht, ausgehandelter Kompromiss über ein neues Wahlgesetz und den Fahrplan zur Abhaltung von Wahlen. Treibende Kraft dahinter waren al-Mischri und der Parlamentspräsident Aguila Saleh, deren Pläne aber auch die Einsetzung einer neuen Regierung vorsahen, die ganz Libyen repräsentieren sollte, während die Dabaiba-‚Regierung‘ in Tripolis und die vom Parlament eingesetzte Gegenregierung unter Osama Hamada abtreten sollten.

Nachdem al-Mischri aus dem Weg geräumt ist und die Machtverhältnisse im Präsidialrat zugunsten von Takala und somit Dabaiba geklärt sind, kann der UN-Sondergesandte Bathily mit Rückendeckung der sogenannten ‚internationalen Gemeinschaft‘ einen harten Kurs gegen Aguila Saleh und weitere Parlamentarier fahren, die gerne die Dabaiba-‚Regierung‘ gestürzt und eine neue Übergangsregierung eingesetzt hätten.

Man darf gespannt sein, wie es mit der Verabschiedung des Wahlgesetzes und dem Fahrplan zu Wahlen weitergeht. Laut einem Parlamentsentschluss vom 07. August wurde der Entwurf des Wahlgesetzes dem 6+6-Ausschuss zur Überarbeitung vorgelegt. Ob dabei eine Einigung erzielt wird, ist nach der Wahl von Takala fraglich.

Keiner der augenblicklich politisch Mächtigen in Libyen wünscht Wahlen, ob mit al-Mischri und Saleh oder ohne, ob mit der Fortsetzung der Dabaiba-‚Regierung‘ oder ohne. Denn das Wichtigste ist, dass die ausländischen Player ihren Einfluss in Libyen behalten. Wenn es sein muss, dann auch durch Wahlen – aber nur, wenn garantiert ist, dass diese unter ihren Bedingungen und mit gewünschten Ergebnissen ablaufen.

Dabei wäre es für Libyen von immanenter Bedeutung, dass sowohl die Arbeit des Staatsrats als auch des Parlaments eingestellt und in wirklich freien Wahlen den Libyern ermöglicht wird, ihre Vertreter zu wählen. Denkbar wäre, das Wahlgesetz von 2012 zu aktivieren, um auf seiner Grundlage Wahlen abzuhalten, und erst anschließend ein Verfassungsreferendum anzustreben.

UN-Sondergesandter Bathily trifft den neu gewählten Vorsitzenden des Hohen Staatsrats Muhammad Takala

UN-Sondergesandter Bathily trifft den neu gewählten Vorsitzenden des Hohen Staatsrats Muhammad Takala

https://www.agenzianova.com/en/news/libya-changes-the-president-of-the-senate-but-the-elections-are-increasingly-distant/
https://libyareview.com/36649/mohammed-takala-elected-as-head-of-libyas-high-council-of-state/
https://libyareview.com/36724/un-envoy-urges-sanctions-for-libyan-election-spoilers/
https://twitter.com/SaifFuture/status/1688579570222419969