Nach dem Zusammenbruch der Staatlichkeit ist Libyen Katastrophen schutzlos ausgeliefert. Trotz eines Gutachtens von 2022, das die Katastrophe ankündigte, und ausgewiesener Gelder für Sanierungen wurden keine Wartungsarbeiten durchgeführt: ein Totalversagen der zuständigen Behörden und Politiker.

Zunächst sah es nach einer Unwetterkatastrophe aufgrund des Sturmtiefs Daniel aus. Doch schon bald ertönte der Hilfeschrei des Premierministers im östlichen Libyen, Osama Hammad, das die Zahl der Todesopfer bereits 2.000 übersteige und ganze Stadtteile mit tausenden Bewohnern ins Meer gespült worden seien. Der stellvertretende Premierminister Qatrani beklagte verzweifelt, dass Libyen keine Hilfe aus dem befreundeten Ausland angeboten werde. Zum ersten Mal wurde eine Zahl der Todesopfer genannt, die in die Tausende ging. Qatrani bat eindringlich um Hilfe, es dauere zu lange, bis international auf die Katastrophe reagiert werde.

Zusätzlich zu den Verwüstungen entlang der ostlibyschen Küste und in den Grünen Bergen, die der Sturm Daniel angerichtet hatte, konnten zwei Staudämme oberhalb der ostlibyschen Küstenstadt Derna den Wassermassen nicht standhalten und brachen. Die Sturmflut ergoss sich hinunter an die Küste, riss Bergdörfer mit sich und ließ in der am Meer gelegenen Stadt Derna ganze Stadtviertel mitsamt ihren Bewohnern in den Fluten versinken. Eine riesige Welle von geschätzt 25 Meter Höhe und 200 Meter Breite wälzte sich durch die Stadt, und riss alles, was ihr im Weg stand, mit sich ins Meer.

Über 10.000 Todesopfer erwartet

In den nächsten Tagen gab das Meer viele Leichname wieder frei und spülte sie an der Küste an. Allein in Derna wurden bisher über 6.000 Opfer gezählt, die in Massengräbern beigesetzt werden. Sehr viele Menschen werden immer noch vermisst.

Für die Überlebenden gab es keinen Strom, kein Wasser, keine medizinische Versorgung. Brücken und Straßen waren zusammengebrochen. Inzwischen war das Ausland aufgewacht und die Hilfsaktionen liefen an. Doch die Versorgung der überlebenden Bewohner gestaltete sich schwierig, da Brücken und Straßen unter den Wassermassen verschwunden waren.

Zunächst konnten die vielen Verletzten aufgrund des Zusammenbruchs der medizinischen Zentren nicht behandelten werden. Die Angst vor dem Ausbruch von Seuchen geht um. Vermutlich müssen die Überlebenden von Derna evakuiert werden. Die Internationale Organisation für Migration geht allein in Derna von mindestens 30.000 Obdachlosen aus.

Inzwischen sind immer mehr Rettungsteams aus verschiedenen Nationen, unter anderen aus Ägypten, der Türkei und Algerien, im Einsatz, so dass auch die Zahl der unter den Trümmern Geretteten dank des Einsatzes von schwerem Gerät zunimmt.

Die Staudämme

Das Wadi Derna ist mehr als 60 Kilometer lang und sein Einzugsgebiet beträgt 575 Quadratkilometer. Nachdem es in der Vergangenheit im Wadi Derna immer wieder zu verheerenden Überschwemmungen mit Toten und großen Zerstörungen gekommen war, so in den Jahren 1941, 1956, 1959 und 1968, wurde Anfang der 1970er Jahre ein jugoslawisches Unternehmen beauftragt, im Talverlauf zwei Staudämme zu bauen. Ihr Kern bestand aus verdichtetem Ton, während die Seiten mit Steinen und Felsen befestigt wurden. Der al-Bilad-Staudamm verfügte über eine Speicherkapazität von etwa 1,5 Millionen Kubikmetern und der große Abu-Mansour-Staudamm, der etwa 13 Kilometer südlich des ersten Staudamms liegt, hatte ein Fassungsvermögen von rund 22,5 Millionen Kubikmetern.

Das Gutachten des Jahres 2022

Im Jahr 2002 wurde die letzte große Wartung der Staudämme von Derna durchgeführt. Die nächste Begutachtung sollte 2017, also nach 15 Jahren erfolgen. Doch da kam 2011 der Nato-Krieg gegen Libyen und eine erneute Begutachtung erfolge erst nach 20 Jahren, also 2022.

Nach dem Jahr 2011 wurden die Staudämme sich selbst überlassen. Die zuständigen Behörden und Politiker waren mit Kämpfen um ihren Machterhalt beschäftigt, gesteuert von ausländischen Staaten, denen in ihrem geopolitischen Kalkül die Staudämme in Libyen und die von Katastrophen bedrohten Menschen ziemlich egal waren.

Die Ergebnisse der 2022 von Professor Abdel-Wanis Aschur von der Omar al-Mukhtar-Universität in al-Bayda durchgeführten Begutachtung haben es in sich. Es wird darin eindringlich auf den Sanierungsbedarf der Staudämme, an denen Senkungen und Risse festgestellt wurden, hingewiesen und vor den katastrophalen Folgen eines Dammbruchs gewarnt.

Kriminelle Machenschaften

Das Rechnungsprüfungsamt deckte jetzt die Umstände der Verzögerung bei der Durchführung der notwendigen Wartungsarbeiten an den Wadi-Derna-Staudämmen auf und leitete eine Untersuchung ein. Bei einer Überprüfung der Unterlagen der Wartungsverträge für die Dämme wurde von der Regierung in Tripolis unter dem Premierminister Dabaiba bekanntgegeben, dass 39 Millionen Libysche Dinar für die Instandhaltung der Dämme ausgewiesen, diese Arbeiten aber nicht ausgeführt wurden. Nun hat sich der libysche Generalstaatsanwalt Siddiq as-Sur eingeschaltet, um diesen kriminellen Machenschaften nachzugehen. Beamten des Planungsministeriums seien bereits Vorladungen zugegangen.

Bereits 2007 waren mit der ausländischen Firma Arcel Company Verträge über Wartungsarbeiten abgeschlossen worden und ein weiterer Vertrag im Jahr 2009 mit der Firma Concord Company. Die im Rahmen dieser Verträge begonnenen Arbeiten wurden aber nicht abgeschlossen, sondern im Jahr 2011 eingestellt. Trotz der vorliegenden Wartungsverträge seien ab diesem Zeitpunkt keine weiteren Arbeiten mehr vorgenommen worden, obwohl im libyschen Haushalt die Gelder für diese Unternehmen ausgewiesen wurden.

Unklar ist, ob und an wen tatsächlich Gelder geflossen sind. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Und auch der Präsidialratsvorsitzende al-Menfi fordert, die für die Tausende von Toten Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Dabei ist Libyen alles andere als ein armes Land. Laut Weltbank waren die Öleinnahmen 2022 beträchtlich. Ein Großteil der Gelder fließt in die Finanzierung der Milizen, die für den politischen Machterhalt sorgen. Daneben ist die in Libyen herrschende Korruption himmelschreiend.

Von den Vereinten Nationen wurde bemängelt, dass es kein Frühwarnsystem gab, um die betroffenen Gebiete vorzuwarnen und Evakuierungen durchzuführen. Es scherte sich schlichtweg niemand darum, dass eine Katastrophe bevorstand.

Inzwischen wurde bekannt, dass auch andere Staudämme in Libyen dringend sanierungsbedürftig sind. Doch seit mehr als zwölf Jahren sind die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung ausschließlich damit beschäftigt, sich um ihren persönlichen Machterhalt und den ihrer Protegés zu kümmern.

Ein Neuanfang für ganz Libyen

Bis 2011 war Libyen das höchstentwickelte Land ganz Afrikas mit einer gut funktionierenden Infrastruktur. Den Preis dafür, dass dieses ganze Land nach 2011 dem Verfall überlassen wurde, zahlen die tausende Todesopfer der Katastrophe von Derna.

Viele Libyer sehen die jetzige Katastrophe auch als eine Chance für einen Neuanfang. Eine Welle der Hilfsbereitschaft durchzog das ganze Land, von Ost nach West und Nord nach Süd. Libyer helfen Libyern, die künstlich erzeugte politische Spaltung des Landes wurde von den Menschen der Lüge gestraft. Sie hoffen, dass die Katastrophe dazu beitragen möge, Brücken wieder aufzubauen und die Spaltung zu überwinden.

 

In Derna reichen sie sich die Hände

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