Rezension. Diese Frage beantwortet Rainer Mausfeld in seinem Standartwerk über Demokratie mit einem eindeutigen Nein. Mausfelds neues Buch „Hybris und Nemesis. Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt – Einsichten aus 5000 Jahren“ ist unverzichtbare Lektüre für alle, die sich darüber Gedanken machen, was bei unserer gegenwärtigen Art von Demokratie falsch läuft und wie echte Demokratie aussehen könnte. Echte Demokratie, die verhindert, dass die Schwachen mittels Elitenherrschaft zum Opfer der Starken werden.

Eliteneinhegung: Von den Jägern und Sammlern über das alte Ägypten und China ins antike Athen und zu Machiavelli

Das klar gegliederte und kompakte Buch zu den Themen Gesellschaft, Eliten und Macht gibt einen Überblick, wie sich der Versuch, die parasitäre Elitenmacht zum Wohle der Gesellschaft einzuhegen, durch die gesamte Zivilisationsgeschichte zieht. Mausfeld schlägt dazu den Bogen von den Jäger- und Sammlergesellschaften über die frühesten Zivilisationen in Mesopotamien bis nach Ägypten und das alte China. Dabei führt er aus, wie Gesellschaften jeweils bestrebt waren, Instrumente zur Kontrolle beziehungsweise zur Verhinderung von Elitenherrschaft zu entwickeln.

Ein eigenes Kapitel widmet Mausfeld dem antiken Athen, der ‚Wiege der Demokratie‘, wo die Reformen eines Solon und eines Kleisthenes das Fundament für die Athenische Demokratie legten. Besondere Beachtung findet dabei der weniger bekannte Hellene Ephialtes mit seinen Vorstellungen von Demokratie, die nach Mausfelds Meinung einer echten Demokratie am nächsten kamen.

Auch die „machiavellische Demokratie“ ist Mausfeld ein eigenes Kapitel wert. Denn in seinen Discorsi benannte Machiavelli den unüberbrückbaren Gegensatz von Volk und Elite und beschrieb klar die gesellschaftlichen Zerstörungskräfte von Eliten.

Neuzeit: Kapitalismus und repräsentative Demokratie als Elitenherrschaft

Mausfeld zeigt auf, dass unsere repräsentative Demokratie durch das Mehrhabenwollen der Eliten, durch deren Macht- und Besitzgier, weit davon entfernt ist, eine echte Demokratie zu sein, sondern stattdessen den Zusammenhalt der Gesellschaft bedroht. Laut Mausfeld schließen sich echte Demokratie und Kapitalismus aus, aber nur einer echten Demokratie wäre es möglich, den Machtanspruch von Eliten einzuhegen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, dass Mausfeld Kapitalismus nicht im Sinne von kapitalistischen Wirtschaftsformen betrachtet, sondern dass für ihn Kapitalismus die Herrschaft des Kapitals bedeutet, also Kapitalismus die Gesellschaftsordnung darstellt, in welcher der gesamte gesellschaftliche Reichtum als Ware behandelt wird.

In der Neuzeit erfolgte laut Mausfeld die Zerstörung einer zivilisatorischen Leitidee, in Szene gesetzt durch den „wohl größten Wortbetrug der Geschichte“.

In den folgenden Kapiteln arbeitet Mausfeld heraus, was Demokratie in kapitalistischen Demokratien bedeutet, nämlich eine spezielle Form der Elitenherrschaft.

Repräsentative Demokratie als Herrschaftsinstrument

In seinem Werk erläutert Mausfeld wie es den Macht- und Geldeliten mittels des demokratischen Konzepts gelang, die Menschen hinters Licht zu führen. Nachdem über den Zeitraum von zweitausend Jahren Demokratie von elitären Kreisen als „Pöbelherrschaft“ verhöhnt wurde, erkannten die Machteliten ihren Wert als Herrschaftsinstrument, das von nun an auf der ganzen Welt verbreitet werden sollte, auch wenn dazu „Millionen von Menschen getötet und ganze Länder in Schutt und Asche gelegt wurden“.

„Die Idee der repräsentativen Demokratie diente von Anfang an der Demokratieabwehr“, da sie eine Unterwerfung unter die Eliten sei, wobei die abgegebene Stimme bei Wahlen die Zustimmung zum eigenen >Unterwerfungsvertrag< darstelle. Wahlen als Instrument der Herrschaftssicherung, indem sie, sozusagen als >Revolutionsprophylaxe<, die Illusion der politischen Selbstbestimmung erzeugen.

Weder Wahlen noch Bürgerinitiativen seien geeignete politische Instrumente, um Machteliten zu kontrollieren, sondern hätten sich in kapitalistischen Demokratien geradezu in Herrschaftsinstrumente verwandelt. Das Wort ‚Demokratie‘ sei seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt worden und zur „Allzweckwaffe der Macht“ verkommen, die „natürlichen Bedürfnisse nach Freiheit und Selbstbestimmung ruhiggestellt“. Demokratie fände seither ohne Demokratie statt, die Kontrolle über die Entscheidungsprozesse verbleibe bei den Machteliten, die Eigentumsordnung würde nicht gestört.

Mausfeld zeigt auf, wie das repräsentative System die Meinung der Wähler zu beeinflussen sucht, und wie die USA ihre antidemokratische Zielsetzung hinter dem Wort Demokratie verstecken, „um eine möglichst breite Zustimmung zu ihrer Form einer Elitenoligarchie zu erhalten“. Dies stelle den Anfang von der „Umdeutung politischer Kernbegriffe in ihr Gegenteil zu einer ausgefeilten Herrschaftstechnik“ dar. Die Eliten hätten erkannt, dass ihre Elitendemokratie einfacher war und billiger kam als Repressionsmaßnahmen gegen das Volk. Die ursprüngliche Bedeutung von Demokratie sei im öffentlichen Bewusstsein ausgelöscht worden, was nicht zuletzt durch die Kontrolle der Massenmedien gelang. Und so stünde der Demokratie-Begriff heute für die „Herrschaft kapitalistischer Machtverhältnisse“.

Echte Demokratie und Kapitalismus hält Mausfeld deshalb für unvereinbar, weil im Kapitalismus immer der Stärkere die Macht behalten und sich durchsetzen werde. Echte Demokratie beruhe aber auf dem Prinzip der Gleichheit und ist somit unvereinbar mit dem heutigen Standardmodell einer Elitendemokratie, bei der die Beteiligung des Volkes an politischen Entscheidungen auf das Minimum einer periodischen Wahl zwischen Elitenvertretern beschränkt wird.

Die Europäische Union hält Mausfeld für eine „radikal anti-demokratische Institution“.

Die Macht der Eliten zeigt Risse

Mausfeld sieht durch die Asymmetrie der Verhältnisse zwischen den Macht- und Besitzeliten und dem Rest der Bevölkerung bezüglich der Entgrenzung von Macht ein vorher nie gekanntes Ausmaß erreicht. „Zugleich hat sich die technologische Entwicklung von Instrumenten von Macht [durch Überwachungs- und Repressionstechnologie] in kaum noch vorstellbarer Weise beschleunigt“, was wiederum die Macht- und Besitzgier der herrschenden Eliten steigere. Der Kapitalismus entledige sich immer mehr seiner Maske und gehe „wieder zu offen autoritären Herrschaftsformen über“. Das Tragische dabei sei, dass dies den Bürgern kaum bewusst werde.

Trotzdem sei die strikte Kontrolle des Volkes durch die Eliten in letzter Zeit geschwächt worden und die repräsentative Demokratie funktioniere augenblicklich nicht mehr ausschließlich im Sinne der Machthabenden. Deshalb komme es zu einer „Entgrenzung von Macht“, was dreierlei Konsequenzen zur Folge habe: Erstens wachsen die ökonomischen Ungleichheiten und es erfolge die „Zerstörung materieller und sozialer Grundsubstanzen der Gesellschaft“; zweitens wachse auch die institutionelle und individuelle Korruption; drittens führe die Elitenverkommenheit zu einer gezielten gesellschaftlichen Zerstörung.

Corona-Krise und Ukraine-Krieg – Manipulation durch die Medien

Die Rolle der Massenmedien bestünde darin, die auftretenden inneren Widersprüche zu verdecken und somit die Machtverhältnisse stabil zu halten. „Ohne eine Kontrolle über die öffentliche Meinung würden kapitalistische Demokratien an ihren inneren Widersprüchen zerbrechen.“ Mit Hilfe der Sozialwissenschaften und der Psychologie solle „die gesamte Weise des Erlebens und Verstehens der gesellschaftlichen Welt im Sinne bestehender Machtstrukturen“ umgestaltet werden. Tatsächlich seien für Laien „die immensen Fortschritte bei der Manipulation und der Kontrolle des menschlichen Bewusstseins kaum vorstellbar“.

Erst die Corona-Krise habe den zutiefst autoritären Geist, der offen oder latent im Kapitalismus immer vorhanden ist, „wieder unverhüllt sichtbar“ gemacht. Im Ukraine-Krieg verstünden sich die Medien als „eigenständige Akteure im Kampfgeschehen, das sie vorantreiben und lenken wollen“. Mausfeld schreibt: „Zur Kontrolle des Informationsraumes gehören auch aktive staatliche Manipulationen durch Streuen von Desinformation und durch Angriffe bis hin zu Zerstörung von Reputation unliebsamer Personen und Organisationen.“

Eine Gesellschaft hält Mausfeld dann für verkommen, wenn Individuen mit besonders großer Diskrepanz zwischen kollektiv moralisierenden Worten und verkommenen Handeln höhere Chancen auf gesellschaftliche und institutionelle Spitzenplätze haben. Dies gehe einher mit Entgrenzung der Macht und Zerstörung der Gesellschaft. Dabei gehöre Heuchelei zur Funktionslogik dieser „Wertegemeinschaft“.

 „Die ideologische Fiktion über den Menschen, über die Wirtschaft und über die Gesellschaft, auf denen dieses System beruht, haben sich als so wirkmächtig erwiesen, dass sie mittlerweile selbst zu Realitäten der Lebenswelt in kapitalistischen Demokratien geworden sind“. […] ein Denken, Fühlen und Wünschen außerhalb dieses ideologischen Gewölbes [ist] kaum noch vorstellbar.“

Das Werk von Sheldon S. Wolin

Ein Kapitel widmet Mausfeld dem politischen Philosophen Sheldon S. Wolin, der uns in Zeiten der Postdemokratie angekommen sieht. Wolin bezeichnet die repräsentative Demokratie als >Wahloligarchie<, was bedeutet, es herrschen einige wenige, wenn auch nicht immer die gleichen. Liberale kapitalistische Demokratien seien perfekt auf das Ziel einer freiwilligen Unterwerfung zugeschnitten. Mausfeld erläutert Wolins Konzept des >umgekehrten Totalitarismus<, worunter ein System zu verstehen ist, „das vorgibt, das Gegenteil von dem zu sein, was es in Wirklichkeit ist“. Liberale kapitalistische Demokratien seien also „das diametrale Gegenteil von dem, worauf die Leitidee von Demokratie zielt“, verdeckt durch eine >gelenkte Demokratie<, mit dem Ziel der >Entgrenzung von Macht<, und der >Basisideologie des Kapitalismus<.

Der menschliche Wille zur Selbstbestimmung

Mausfeld sieht die Grundlagen für eine Seelenheilungsprozess „in der Beschaffenheit des Menschen selbst angelegt, in seinen natürlichen Bedürfnissen, nicht dem Willen eines anderen unterworfen zu werden, in seinen natürlichen moralischen Sensibilitäten […] sowie seiner unerschöpflichen Kreativität.“

Für Wahrheit gebe es keinen Ersatz. Deshalb müsse der Mut gefunden werden, wieder das auszusprechen, „was ist“, um Ausgänge aus dem ideologischen Gefängnis zu finden. Damit könne ein neuer gesellschaftlicher Nährboden für das Finden von Lösungen der gesellschaftlichen Bedrohungen geschaffen werden.

Voraussichtlich würden die Nutznießer des jetzigen Systems darauf reagieren wie immer, nämlich mit Repression, Diffamierung, Ächtung und Spaltung.

Was bleibt sei die Hoffnung. Hoffnung als Ausdruck eines Urvertrauens in die gesamte Lebenswelt.

Bleibt vielleicht noch anzumerken: Auch wenn sich, wie Rainer Mausfeld proklamiert, echte Demokratie und Kapitalismus ausschließen, heißt dies nicht, dass die Überwindung des Kapitalismus automatisch echte Demokratie zur Folge haben würde. Die Entwicklung neuer Gesellschaftsideen ist daher unabdingbar.

 

Rainer Mausfeld „Hybris und Nemesis. Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt – Einsichten aus 5000 Jahren“
Westend Verlag, November 2023, 512 Seiten

Der Autor und Psychologe Prof. Dr. Rainer Mausfeld arbeitet auf dem Gebiet der Wahrnehmungs- und Sinnespsychologie. Ein Schwerpunkt seiner Arbeiten liegt auf der Manipulierbarkeit von öffentlicher und privater Meinung. Von Rainer Mausfeld erschienen 2015 das Buch „Warum schweigen die Lämmer?“ und 2019 das Buch „Angst und Macht“.