Rezension. Das Buch von Bernhard Hommel „Wir triggern uns zu Tode – Psychogramm einer neurotischen Gesellschaft“ macht es sich zur Aufgabe, allgemeinverständlich die psychologischen Mechanismen herauszuarbeiten, die zu einer Überforderung bei der Verarbeitung von emotionalen Triggern führen. Es zeigt auch auf, wie man dieser Überforderung entgegentreten und sich vor ihr schützen kann
Bernhard Hommel erklärt weite Teile unserer Gesellschaft für neurotisch, Neurotizismus verstanden als eine kontinuierliche Eigenschaft mit fließenden Grenzen. Durch die unablässige Überschwemmung der Menschen mit Triggern, und das damit hervorgerufene Hochkochen von Emotionen, erfolge ein Abgleiten zunehmend größerer Bevölkerungsanteile in einen krankmachenden Neurotizismus.
Die Ausführungen von Bernhard Hommel sind eine gute Ergänzung zu Jonathan Haidts Buch „Generation Angst – Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen“.
Kritisch bleibt anzumerken, dass die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe, die zu diesen vielleicht sogar gewollten Entwicklungen führen, zu wenig in den Fokus gerückt werden.
Aktuelle Lage: Zahlen, die aufhorchen lassen
Schon in der Einleitung seines Buches präsentiert Bernhard Hommel erschreckende Zahlen hinsichtlich neurotischer Erkrankungen in westlichen Gesellschaften. So haben Studien ergeben, dass in den USA 22 Prozent der Studenten schon einmal ernsthaft erwogen haben, sich umzubringen, 18 Prozent dafür konkrete Pläne entwickelten und 10 Prozent erfolglose Suizidversuche unternahmen. Das Leiden unter Gefühlen von Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit hat sich zwischen 2005 und 2020 von 28 auf 42 Prozent erhöht. Insgesamt werden immer häufiger Angststörungen, Depressionen, Drogensucht, psychotische Störungen und Essstörungen diagnostiziert, häufig treten mehrere Störungen in Kombination auf.
Hommel beobachtet auch die Zunahme narzisstischen Verhaltens im Alltag, das sich in einem großen Bedürfnis nach Bewunderung und gleichzeitigem Mangel an Einfühlungsvermögen ausdrückt. Während 1963 nur 12 Prozent der US-Amerikaner dem Satz „Ich bin eine wichtige Person“ zustimmten, zeigten sich im Jahr 1992 fast 80 Prozent von ihrer Wichtigkeit überzeugt. Wobei der nach außen gerichtete „grandiose Narzissmus“ nicht als krankmachend gilt, im Gegensatz zum „verletzlichen Narzissmus“, bei dem ein Gefühl der fehlenden Anerkennung der eigenen Großartigkeit vorherrscht, was sich in Introvertiertheit, Kälte, Boshaftigkeit und Egozentrik äußert.
In Deutschland hat sich die Anzahl der Bürger, „die ihre Gefühlslage mit Wut bezeichnen würden, verdoppelt und liegt nun mit 40 Prozent auf einem besorgniserregend hohen Niveau“. Gewaltdelikte nehmen zu, auch bei unter 14-jährigen und in partnerschaftlichen Beziehungen. Selbstredend wirkte die unselige Corona-Zeit als Brandbeschleuniger bei der Verstärkung vieler Probleme.
Neurose, Gehirn und Nervensystem
Zunächst erklärt Bernhard Hommel, was überhaupt unter Neurosen zu verstehen ist, auch in Abgrenzung zu psychotischen Erkrankungen. Neurotizismus wird hierbei „als ein Aspekt der Persönlichkeit verstanden, den wir alle mehr oder weniger teilen“. Hommel unterscheidet zwischen nach außen gerichteten Neurosen wie Wut und Aggression, und internalisierten Neurosen, die sich in Depressionen, Essstörungen und Selbstverletzungen äußern.
Auf bestimmte Reize reagieren wir emotional und müssen mit diesen Gefühlen auf die eine oder andere Weise umgehen. Eine erste Frage ergibt sich dabei hinsichtlich der Aufmerksamkeit, der wir einem emotionalen Reiz widmen. Der evolutionär alte Teil unserer Hirnstruktur, der Mandelkern, hat hierbei einen großen Anteil. Er ruft aufgrund einer erkannten und Angst auslösenden Gefahr einen Automatismus an reflexhaften Handlungen ab. Mandelkerne können sich individuell stark unterscheiden und je nach Veranlagung mehr oder weniger heftig reagieren. Auch der Botenstoff Serotonin spielt dabei eine bisher noch wenig erforschte Rolle.
Begegnen wir einem emotionalen Reiz, wird zum einen das gesamte Nervensystem aktiviert, zum anderen bilden wir ein internes Modell dieses Reizes. Je öfter nun ein bereits bekannter emotionaler Reiz oder Trigger auftritt, desto weniger Aufregung ruft er hervor. „Die Neugier ist erloschen.“ Die Technik der Desensibilisierung bei Phobien macht sich diesen Mechanismus zu nutze.
Komplexe und ihre Gefahren
Um Neurosen zu erklären, führt Hommel den Begriff des Komplexes nach C. G. Jung, dem Begründer der analytischen Psychologie, ein. Da unser Gedächtnis so strukturiert ist, dass es Inhalte, die zusammen erlebt wurden, auch zusammen wieder erinnert und so gewisse Vernetzungen entstehen, ergeben sich zusammengehörige inhaltliche Komplexe. Der Autor nimmt auch Bezug auf den Psychoanalytiker Alfred Adler und dessen Forschungen zum Minderwertigkeitskomplex, der zu Depressionen bis hin zum Suizid führen kann.
Unser Gedächtnis kreist auch um Themenkomplexe, die völlig harmlos sein können, wie zum Beispiel den geliebten Fußballclub oder das leidenschaftliche Briefmarkensammeln; allerdings kann die gedankliche Beschäftigung mit Komplexen ins Neurotische abgleiten, vor allem, wenn sie aufgrund eines empfindlichen Mandelkerns und ineffektiver Bewältigungsstrategien starke negative Emotionen auslöst.
Komplexe werden dann dominant, wenn sie ständig selektiv neue Informationen, die ihren Komplex befeuern, aufnehmen, während konkurrierende, vielleicht rettende Gedanken effektiv verdrängt werden.
Die Neurotisierung der Gesellschaft
Laut Hommel wird unser Mandelkern immer häufiger getriggert, insbesondere durch die starke Emotionalisierung der Sprache in den sozialen Medien, aber auch infolge einer emotionsgeladenen Berichterstattung in den Massenmedien auf Kosten einer faktenbasierten Berichterstattung. Im Internet bekommen jene Nachrichten die meisten Klicks, die den kürzesten Weg zum Mandelkern nehmen. Immer mehr Themen würden zu neurotischen Triggern aufgeladen, wobei das ständige Auftauchen vieler kleiner Trigger-Herausforderungen Stress, mentale Erschöpfung und Burn-out zur Folge habe. Eine eigentlich zu begrüßende größere Empathie führe leider auch zu einer größeren Empfindlichkeit für emotionale Trigger, „individualisierte Wahrheit“ anhand von Einzelschicksalen zu einer einseitigen Berichterstattung auf Kosten einer Suche nach „allgemeingültiger Objektivität“, die Distanz zu allen Beteiligten hält. Auch wenn in Intuitionen „oft viel Erfahrung und umfangreiches Wissen“ stecke, das „eben nicht verbalisiert und logisch strukturiert werden kann“, rät Hommel, neben dem Bauchgefühl auch der Vernunft den ihr zustehenden Raum zu geben.
Eine weitere Gefahr für unsere psychische Gesundheit sieht der Autor in der „Moralisierung des Alltags“, beispielsweise wenn bei einer Fußball-WM eine Regenbogenbinde getragen wird oder Waffenlieferungen an kriegführende Länder mit einer „moralischen Notwendigkeit“ begründet werden. Es finde eine Überschwemmung mit ethischen und moralischen Argumenten statt, „ohne jede weitere Argumentation, die rationalen Kriterien genügen würde“, und die als „vollkommen hinreichende Argumentationsgrundlage betrachtet“ werden. Der Autor unterscheidet dabei zwischen dem beschreibenden Begriff Moral, der „sich im spontanen Verhalten findet“, und dem Begriff der Ethik, der vorgibt, was man tun sollte. Bei der Vermischung dieser Begriffe wird vorausgesetzt, dass wir nicht nur handeln, wie wir eben handeln, sondern dass eben dieses unser Handeln das ethisch überlegenere Handeln darstellt, das Handeln anderer also „moralisch niederwertiger sein muss“. Dabei werde vergessen, dass es keine allgemein akzeptierten Regeln gibt, um zwischen konkurrierenden ethnischen Systemen objektiv entscheiden zu können.
Hommel schreibt: „Die Abwertung des Tuns des anderen ist die Basis für unseren Selbstwert. […] Aus dieser Perspektive ist die starke Zunahme des Moralisierens in den letzten Jahren ein Indikator für eine zunehmende Bedrohung des Selbstwertes vieler Menschen.“ Moralische Gründe seien jedoch weder rational noch empirisch zu überprüfen. „… das Reden über Moral ist eigentlich nicht mehr als das Reden über die eigenen Gefühle (man mag einfach bestimmte Dinge nicht), dies aber irreführenderweise mit einem hohen (tatsächlich aber künstlich überhöhten) gesellschaftlichen Anspruch.“ Das ständige in-sich-Hineinhorchen, um „das Richtige“ zu tun, sei das Gegenteil einer effektiven Bewältigungsstrategie bei einer Flut neurotisierender Trigger. Helfen würden vielmehr Gewöhnung, Rationalisierung und Distanzierung, was bedauerlicher Weise gesellschaftlich immer mehr verpönt ist.
Der Autor unterscheidet zwei Arten von Empathie: die kognitive Empathie über das Wissen von Gefühlen anderer Menschen und die affektive Empathie, bei der das Gefühl selbst imitiert wird, ausgelöst durch Spiegelneuronen, wenn wir beispielsweise eine Person weinen oder lachen sehen. Empathie könne uns aber auch leicht übermannen oder auch dazu führen, dass Mitgefühl nur noch für eine Seite gezeigt wird, im Hinblick auf die andere Seite sogar böswillige Neigungen gestärkt werden.
In diesem Zusammenhang weist Hommel darauf hin, dass Forschungsergebnisse einen Zusammenhang zwischen Wertorientierung und Gewaltakzeptanz belegen, also zwischen einer durch emotionalisierende Trigger ausgelösten Aktivierung des Mandelkerns und der Neigung zu Gewalt.
Neurosenbildung durch Identitätspolitik, Komplexbildung und Mikroaggression
Kritisch betrachtet der Autor das Thema Identitätspolitik, da dort der Fokus auf ganz wenigen Merkmalen eines Menschen zur Identitätsdefinition liegt, wie beispielsweise das Geschlecht oder die Hautfarbe. Dieses willkürlich bestimmte Merkmal werde als gesellschaftlich relevant erklärt. „Andere Dimensionen, die ganz andere Arten von Ungleichverteilungen mit sich brächten, werden ebenso willkürlich übersehen wie etwa die entsprechende Sterberaten“, bei denen Männer stark benachteiligt sind; man denke nur an Kriege.
Die Identitätspolitik postuliert, ein Weißer könne nicht verstehen, wie sich ein Schwarzer fühlt. Wenn sich also ein Schwarzer durch einen Weißen beleidigt fühlt, kann dies nicht wiederlegt werden. Aussagen würden nicht mehr durch ihren Wahrheitsgehalt bestimmt, sondern „das entscheidende Kriterium ist allein ihre Authentizität, also wer die Aussage tätigt“. Dies habe zur Folge, dass nicht mehr die von Platon berufene Vernunft, sondern das Gefühl über die Wahrheit von Aussagen entscheidet. Doch laut Hommel mache erst die vernunftgetriebene, distanzierte Herangehensweise an Sachverhalte den Austausch mit anderen und Vergleiche möglich, während die emotionsgetriebene Herangehensweise den allgemeinen Erregungszustand systematisch erhöhe und häufig auch auf einem hohen Niveau halte. Laut Hommel „ein idealer Ausgangspunkt für das Entstehen einer Neurose!“
Themenkomplexe müssten nicht emotional aufgeladen sein, und je weniger sie es sind, desto besser ließen sie sich bewältigen. Leider kämen unsere „neuen Narrative aber zumeist mit großem Furor daher“, wie beispielsweise der Ukraine-Krieg oder das Klima-Thema. Hommel zitiert die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie: „Naturkatastrophen und klimabedingte Wetterextreme gehen mit einer Zunahme von Depressionen, Angst- und Traumafolgestörungen sowie Suiziden einher.“ Dabei würde ein effektiver Umgang mit diesen Krisen einen kühlen Kopf erfordern, „während Ängste und Panik kontraproduktiv sind“ und neurotisierend wirken.
Werde die Schwelle für diskriminierendes Verhalten extrem gesenkt, werden Bemerkungen schnell als einschüchternd oder bedrohlich eingestuft und so systematisch ein Beleidigungspotential geschaffen, bei dem Missverständnisse vorprogrammiert sind. „Der Zuwachs an möglichen Opfern und möglichen Tätern ist enorm.“ Oft müssten es nicht einmal konkrete Handlungen sein, sondern es genüge die Einschätzung, die allein vom Vorstellungsvermögen der beurteilenden Person abhängt. Sogar der Trauma-Begriff habe eine Ausweitung erfahren, demzufolge nicht nur Personen, die ein Trauma erlebten, als traumatisiert gelten, sondern auch Personen, die Leute kennen, denen Schreckliches widerfuhr.
Bernhard Hommel stellt die sich aufdrängende Frage, warum und mit welchen Zielen die verfügbaren Beleidigungs- und Traumatisierungspotentiale in den letzten Jahren systematisch erweitert wurden. Er hält zum einen die us-amerikanischen Anwälte dafür verantwortlich, die gutes Geld mit ihren Klagen verdienen. Den identitätspolitischen Aktivisten dagegen ginge es um eine gerechtere Verteilung von Ressourcen und Macht zugunsten sozial Benachteiligter. Doch was ist gerecht? In neuerer Zeit wurde der Begriff der Leistungsgerechtigkeit durch den Begriff der Ergebnisgerechtigkeit verdrängt, nach dem es potenziell ungerecht sei, wenn jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt mehr besitzt als jemand anders, und es mache keinen Unterschied, ob man sein Vermögen ererbt oder mühsam erarbeitet hat. Auch diese Einstellung habe „ein enormes Potential für die Schaffung negativ aufgeladener Komplexe“, da das „Erregungspotential dieser Ungleichheiten enorm und unendlich“ ist, inzwischen nicht nur Löhne und Besitz beträfen, sondern sich auch auf Bereiche wie Herkunft, Hautfarbe, gutes Aussehen, Figur und Sprache beziehen.
Es würden immer mehr Täter-Opfer-Komplexe aufgebaut und über sie intensiver gebrütet, womit sie sich immer stärker negativ aufladen.
Haltung – ein Begriff aus faschistischer Zeit
Auch die Aufforderung, Haltung zu zeigen, hinterfragt der Autor. Schon Hitler und Goebbels forderten von ihren Anhängern, Haltung zu zeigen. Haltung beträfe die Denkweise und Einstellungen von Menschen, die „nichts anderes als ein Begriff für wiederkehrende Muster im Verhalten einer Person“ seien. Haltung könne auch aggressiv sein, und hinter politischem Engagement müssten nicht unbedingt hohe ethische Werte stecken. Die an Palästinenser oder Russen gestellte Forderung, sich öffentlich zu positionieren, entspreche einer Nötigung, bei der es nicht um Haltung, sondern um die richtige Haltung gehe.
Mit „Haltung zeigen“ ist niemanden geholfen, sondern es hat allein die Funktion, den Zusammenhalt innerhalb der eigenen Gruppe zu stärken. Dies wiederum verstärke die gesellschaftlichen Spaltungen, denn Menschen haben die Neigung, zwischen der eigenen und anderen Gruppen zu unterscheiden und die eigene Gruppe weitaus besser zu behandeln. Das Resultat von „Haltung zeigen“ sei eine verstärkte Diskriminierung der ausgegrenzten Gruppe, die wiederum einen Vertrauensverlust innerhalb der Gesellschaft zur Folge hat. „Je größer die Polarisierung in einer Gesellschaft, desto geringer das Vertrauen.“ Haltung führe also innerhalb der Gesellschaft zu einem Vertrauensverlust, da deren Bindemittel eben Vertrauen ist. „Haltung zeigen“ wirkt auf Gesellschaften zerstörerisch.
Meist gehe mit Haltung eine moralisierende Argumentation einher, wobei den eigenen Argumenten künstlich ein höheres Gewicht beigemessen wird und Gegenargumente kaum gelten gelassen werden. Insgesamt habe dies eine Radikalisierung der Bevölkerung zur Folge.
Wie werden wir unsere Neurosen wieder los?
Selbstverständlich könne die Erhöhung der Sensibilität einer Gesellschaft positiv bewertet werden. Doch wenn die Menschen „immer mehr, immer länger und immer öfter über negative Dinge“ nachdenken, folgt daraus, „dass wir immer mehr zu Depressionen neigen, zwanghaftes, narzisstisches, impulsives und sogar gewalttätiges Verhalten zeigen“.
Was kann der Einzelne für sich tun und was kann die Gesellschaft tun, um diesem Triggerdauerfeuer zu entgehen?
Sachlichkeit, Zweifel und Lust auf Diversität
Gefragt sei eine neue Sachlichkeit, dies heißt, mehr sachliche Auseinandersetzung statt Empörung. Der Informationsüberflutung mit ihren emotionalen Triggern durch die Medien sollte durch Entsagung Einhalt geboten werden. Mittels Selbstreflexion und dem Verständnis für die Gründe anderer sollte versucht werden, die Selbstemotionalisierung herunterzufahren.
Ein weiterer wichtiger Punkt sei es, dem Zweifel mehr Platz einzuräumen. Es gilt als bewiesen, dass wir uns unserer Haltung umso sicherer sind, je weniger wir über eine Sache wirklich Bescheid wissen. Je mehr Informationen jemand hat, desto mehr ergeben sich verschiedene Perspektiven zur Betrachtung der Komplexität. Klare Haltungen sind das genaue Gegenteil davon. Hier rät der Autor, dem Bauchgefühl wieder etwas weniger Gewicht zu geben, denn „gute Entscheidungen benötigen in der Regel Expertise und Erfahrung und eine sachliche Analyse der verfügbaren Evidenz“; auch wenn der Mensch dazu neige, Haltungen dann besonders überzeugend zu finden, „wenn sie sich nicht an neue Faktenlagen anpassen“. Zweifel heiße auch zu akzeptieren, dass persönliche Empfindungen niemals von allen Menschen geteilt werden können.
Hommel verweist in diesem Zusammenhang auf den Philosophen Marcus Arvan, der zwischen dem Entdeckungsmodell (es gibt eine verborgene Wahrheit, die zu entdecken ist) und dem Verhandlungsmodell (etwas ausdiskutieren, um eine gemeinsame Lösung zu finden) unterschied. Während das Entdeckungsmodell zur Spaltung der Gesellschaft führe, weil jeder meint, er habe die Wahrheit entdeckt, könnten mit dem Verhandlungsmodell Konflikte entmoralisiert und Interessenkonflikte geregelt werden.
Der Autor empfiehlt zur Vorbeugung von Neurosen auch mehr Lust auf Diversität, und zwar auf Diversität der Gedanken, die gerade in der Identitätspolitik fehle. Sowohl Wissenschaft als auch Redefreiheit sei ohne Gedankendiversität nicht möglich. Werden Kontroversen jedoch als Bedrohung aufgefasst, habe dies Cancel Culture zur Folge. Hommel: „Der politische Kampf für die identitäre Diversität geht also unmittelbar zulasten der gedanklichen Diversität“. Dabei sei Vielfalt gerade in der Evolution lebenswichtig, da in bestimmten Situationen auch zunächst abwegige Gedanken hilfreich sein können.
Gehirnorganisch wird bei Entscheidungskonflikten der anteriore cinguläre Cortex (ACC) aktiviert, der seinerseits beim frontalen Cortex gespeicherte Alternativen abruft. Je mehr Entscheidungsmöglichkeiten bestehen, desto stärker ist die Aktivierung, die wir aber als unangenehm empfinden. Je länger verschiedene Alternativen abgewogen werden, desto länger herrschen negative Gefühle vor. Hommel rät in diesen Situationen, die westliche Logik, nach der zwei einander widersprechende Aussagen unvereinbar sind, zu umgehen, und auf eine fernöstliche Logik/Dialektik zurückzugreifen. Dies bedeute, einen entspannteren Umgang mit Widersprüchen zu pflegen und ein Problem näher zu untersuchen, um es besser verstehen zu können. Bei diesem Ansatz würden bei Signalen, die den ACC aktivieren, keine negativen Gefühle ausgelöst, und man könne sich sachlich und entspannt der Konfliktlösung zuwenden.
Andere Meinungen nicht nur zu ertragen, sondern das Interessante in ihnen zu erkennen, bedeute, Neurosen wirkungsvoll zu bekämpfen. Konflikte sollten nicht geleugnet, aber eine sachliche Auseinandersetzung bevorzugt werden. Wünschenswert sei es, das Konzept des „Alle gegen Alle“ durch ein Konzept der sozialen Evolution zu ersetzen, im Sinne von: Die Ideen des einen können auch für den anderen nützlich sein!
Bernhard Hommel erteilt dem Konzept der Moralisierung des Alltags, der emotionalen Aufladung von Themen, der Identitätspolitik und dem Konzept von Mikroaggression eine Abfuhr und zeigt, wie kurz der Weg von dort zu Neurosen und weiter zur Spaltung der Gesellschaft ist. Dabei versäumt er es, auf die evolutionären Ursachen von sinnvollen Emotionen, wie berechtigte Angst bei tatsächlicher Gefahr, einzugehen; Emotionen als eine reale Warnung vor Kriegsgefahr, sozialem Abstieg oder gesellschaftlicher Ausgrenzung.
Die Frage bleibt offen, warum die Politik bei bestimmten Themen diese Emotionalisierung und damit Spaltung befeuert, anstatt auf einen Zusammenhalt der Gesellschaft zu setzen. Man weiß, dass verängstigte Menschen leichter manipulierbar sind.
Benötigt eine kranke Politik eine kaputte Gesellschaft mit neurotisierten Menschen, um den Machterhalt zu sichern?
Prof. Dr. Bernhard Hommel arbeitete am Max-Planck-Institut für psychologische Forschung in München, war Lehrstuhlinhaber an der Universität Leiden und forschte an der TU Dresden. Er hat eine Professur an der Shandong Normal University in Jinan, China, wo er Grundlagenforschung betreibt, und ist Senator der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.
Bernhard Hommel „Wir triggern uns zu Tode – Psychogramm einer neurotischen Gesellschaft“
Westend Verlag 2024, 160 Seiten
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