... und GAZA und ... Rajani KanthRezension. Der neue Gedichtband „… und GAZA und …“, mit dem dankenswerter Weise der pad-Verlag das lyrische Werk von Rajani Kanth auch im deutschsprachigen Raum bekannt und verfügbar macht und der auch durch seine ungewöhnliche grafische Gestaltung besticht, prangert mit wuchtiger Sprache den Genozid in Gaza an. Er steht damit in der Nachfolge der politischen Dichtung eines Erich Fried und dessen Verurteilung des Vietnamkriegs.

Mit einem Vorwort von Rudolph Bauer und einem Nachwort von Wolfram Esser. Rudolph Bauer zeichnet auch für die Nachdichtung und Bildmontage verantwortlich.

Der Autor und Lyriker Professor Rajani Kanth wurde in Indien geboren und besitzt die US-amerikanische Staatsangehörigkeit. Er ist nicht nur Wirtschaftswissenschaftler, Philosoph und Gesellschaftstheoretiker, sondern auch ein leidenschaftlicher Kämpfer für den Frieden.  So gründete er 2007 den Weltfriedenskongress mit dem Ziel, Krieg als Mittel der Politik zu ächten.

Gewidmet ist der Gedichtband dem palästinensischen Lyriker Rif’at al-Ar’ir, der am 6. Dezember 2023 durch einen gezielten Luftangriff der israelischen Armee zusammen mit seinem Bruder und dessen Sohn sowie seiner Schwester und deren drei Kindern ermordet wurde. Der 44-jährige al-Ar’ir galt als die „Stimme von Gaza“. Noch am 9. Oktober hatte er in einem Interview bemerkt, dass das Gefährlichste, was er besitze, ein Textmarker sei. Den könne er auf israelische Soldaten werfen. Kurz darauf warfen sie auf ihn Raketen.

Die Gedichte

Das erste Gedicht des Bandes mit dem Titel „Das Biest“ bezeichnet der Lyriker als

Ode für eine Palästinenserin, die gezwungen ist,
ihr totes Kind in den Trümmern von Gaza zurück zu lassen

[…]

jetzt aber
lass mich gehen
es muss sein
du mein totes kind
in meinen armen
wenn
dann das morgen kommt
kommt
auch die sicherheit wieder
der schutz vor teuflischen schrecken

[…]

Denn dies
ist die stunde der biester
um ihren
furchtbaren willen
auszutoben

Kanth wirft im Titel des nachfolgenden Gedichts die Frage auf: „Was ist das Leben von Nicht-Europäern wert?“ Was kann das palästinensische Leben im Gaza schon wert sein, wenn alle zehn Minuten ein Kind gemordet wird und innerhalb von drei Wochen mehr Kinder ermordet werden, als in den vergangenen vier Jahren weltweit bei kriegerischen Konflikten? Journalistische Aussagen und „neueste nachrichtenmeldungen“ solcher Art webt Kanth in seine Poeme ein. Und vergleicht. Er vergleicht Gaza mit dem Warschauer Ghetto, aber auch mit der Zerstörung Dresdens und schreibt über eine Weltbevölkerung und die Lehre, die sie daraus ziehen wird:

[…]

sie verbindet die punkte und verlängert die linie in die berüchtig-
te geschichte zurück

the vails have been rent

sie wird es niemals vergessen

[…]

? wie nur können sie schlafen : frag ich mich stets

Non-European Lives Matter

NICHT-EUROPÄISCHES MENSCHENLEBEN ZÄHLT

Palestinian Lives Matter

PALÄSTINENSISCHES MENSCHENLEBEN ZÄHLT

Stop the Palestinian Holocaust Now

DEN PALÄSTINENSISCHEN HOLOCAUST

JETZT STOPPEN

 

In dem Gedicht „Ultima Thule“ sieht Kanth die Macht der Hegemonialmächte gebrochen.

[…]

täglich wechselt die welt die spur(en)

die alten hegemonialmächte werden sich | falls sie überleben | nach
hinten zurückgeworfen wiederfinden
ganz weit nach hinten
ehemals lokomotiven der weltgeschichte | werden sie rasch zu völlig
abgehängten waggons auf dem abstellgleis

*

? sic transit gloria mundi

nicht wirklich | denn nie ist jemals etwas glorreich gewesen
es ist vorbei mit ihnen
keine erklärung

*

ausgenommen | da ist noch eine sache | ein ding | was sie tun können
ein großer letzter akt des wahnsinns
sie können die gleise spengen
| für alle
mit sicherheit | das können sie

gewiss | das können sie
? in erinnerung an die nord stream pipeline
wie gesagt | es ist die krise der hegemonialmächte | die viele andere krisen
überragt

[…]

 

In seinem Gedicht „Helfershelfer des Massenmordes“ wird „Uncle Sam“ zu „Uncle Sham / onkel schande“. Kanth schreibt:

[…]

! wertebasiert

wirklich

? „werte“ die sie täglich mit füßen treten

? wen glauben sie täuschen zu können

sie predigen es und stolz fahren sie weiter als Titanic der hybris in ei-
nem meer von verblendung

jedes kind das in Gaza zu töten sie helfen wird zu einem eisberg
in der meinung der welt woran sie zerschellen

[…]

 

Das Gedicht „Haben 30 Tage die Welt verändert?“ lässt der große Humanist mit einem PS enden:

ICH MUSS EIN KLEINES ABER SEHR ERNSTES GE-
BET HINZUFÜGEN: LASST UNS IHNEN VERGEBEN OB-
WOHL SIE GENAU WISSEN WAS SIE TUN

 

Im Gedicht „Gräueltaten: Guernica, Dresden und Gaza“ folgt Kanth den Spuren des Massenmords in der europäischen Geschichte, die bis Gaza reichen.

[…]

massenmord ist massenmord ist massenmord

egal WER die täter sind

*

die großen kanonen unterwerfen die kleinen | schreiben geschichte und
fällen das urteil

wenn sie seemansgarn spinnen über tugendhafte heroische supersieger
| dann sag: unsinn

erinnere sie an die dunklen schandmale die Guernica Dresden und Gaza
verbinden

und so weiter | bis zum nächsten gemetzel

[…]

 

Rajani Kanth blickt auf schmerzende Weise auf den in Gaza tobenden Krieg, mit wütender Traurigkeit und doch nicht ohne Hoffnung auf eine Zukunft ohne Kriege, so in seinem Gedicht „Das Ende des Imperiums“:

[…]

menschlichkeit steht | ich spüre es | an der schwelle zu einem ruhm-
vollen zeitalter
? fühlst du es
! es liegt in der luft
! es ist an der zeit dass das ‚elend der welt‘ jubelt
das große rad der geschichte hat eine weitere drehung gemacht
! huzzah ! hurra

[…]

 

Auf welchem „super einzigartigen“ Berg von Leichen die USA in ihrer „außergewöhnlich einzigartigen“ Art stehen, verdeutlicht das letzte im Band aufgeführte Gedicht „Über die Einzigartigkeit“, in dem sich aufgelistet finden:

[…]  

regime change‘ operationen in übersee – lediglich diejenigen seit dem
zweiten weltkrieg und nur bis 2014

[…]

es folgt eine kalendarische auflistung der kriege seit beginn der republik

in dieser zeit hat der anteil von kriegen 93 prozent betragen

zeitleiste größerer kriege der USA jahr für jahr (von 1776 bis 2011)

Dieses Kanth-Gedicht nimmt einige Seiten in Anspruch.


Einordnung des lyrischen Werks von Rajani Kanth

Rudolph Bauer, der Übersetzter der Kanth-Gedichte und Bildmonteur des vorliegenden Bandes, weist in seinem Vorwort darauf hin, dass sich der Titel „… und GAZA und …“ an den Lyrikband von Erich Fried „und VIETNAM und“ anlehnt. Kanth schreibt, ebenso wie Fried es tat, gegen die Ungeheuerlichkeit des Krieges an. Beide Autoren stellen sich ihrer schriftstellerischen Verantwortung für Frieden, Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit.

Die von „poetischer Wucht“ geprägte Lyrik von Kanth bringt Bauer auch in Verbindung mit den Schriften des barocken Schriftstellers Abraham a Santa Clara, der sich in seiner Dichtung mit den Themen Pest und Dreißigjähriger Krieg auseinandersetzte.

Wie Bauer bemerkt, stellt sich der durch seine indischen Erfahrungen geprägte Kanth ebenso wie der 2008 verstorbene afrokaribisch-französische Schriftsteller und Politiker Aimé Césaine gegen die Unmenschlichkeit des Kolonialismus. Césaine schrieb: „Der Kolonisator, der im anderen Menschen ein Tier sieht, nur um sich selber ein ruhiges Gewissen zu verschaffen, dieser Kolonisator wird objektiv dahingebracht, sich selbst in ein Tier zu verwandeln.“

Wer erinnert sich bei diesen Worten nicht an die Aussage des israelischen Kriegsminister Yoav Gallant, der sagte, man kämpfe in Gaza gegen human animals. Doch in welchem Sinne die Aussage von Gallant übersetzen? Auch wenn allein der Ausdruck „menschliche Tiere“ monströs ist, so sind es Tiere immerhin wert, gut behandelt und auch geliebt zu werden. Oder trifft die Übersetzung im Sinne von „Tiermenschen“ nicht besser das, was in Gaza den Palästinensern gerade angetan wird? „Tiermenschen“ ist ein Begriff aus dem Mittelalter, der abscheuliche Fabelwesen beschreibt. Man google nur das Wort. „Tiermenschen“ sind ekelerregende, widernatürliche Kreaturen, die nur mit Gewalt zu bekämpfen und zu vernichten sind. [1] Vermutlich wählte Gallant eben diesen Ausdruck seiner Doppeldeutigkeit wegen.

In seinem Nachwort beschreibt Wolfram Elsner den biografischen und wissenschaftlichen Werdegang von Rajani Kanth, der in seinen Büchern nicht nur „Against Eurocentrism“, sondern zuletzt auch „Against Economics“ anschrieb und mit der europäisch-angelsächsischen Werte-Grundlage radikal brach.

Den angelsächsischen Neo-Kolonialismus und US-Hegemonialismus nach 1990 sieht er in der Nachfolge des Eurozentrismus. Als einer der schärfsten Kulturkritiker geht es ihm „um die Rekonstruktion Jahrtausende alter eurasischer Hochkulturen, ihrer Philosophien, Werte und Weltsichten, ihrer Bedeutung für den Globalen Süden heute“.

Mit seinen „gedichtähnlichen Reflexionen des aktuellen Weltgeschehens“ entstand in den letzten Jahren „ein zunehmend aktuelles zeitgeschichtliches Kommentar- und Anklagewerk in Kunstform.“ Im Gazakrieg wird Rajani Kanth zum „hochbrisanten, tagesaktuellen Kommentator“, der „aus einem großen, lebenslangen interkulturellen Wissens-, Erkenntnis- und Erfahrungsfundus“ schöpft. Diesen Worten von Wolfram Esser ist nichts hinzuzufügen.

 

Rajani Kanth „… und GAZA und… Politische Gedichte“, pad-Verlag, 2024, 90 Seiten
zu beziehen über: pad-verlag@gmx.net

 

[1] Udo Friedrich, „Menschentier und Tiermensch“, Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht
+ https://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/themen-entdecken/geschichte/geschichte-des-mittelalters/2166/menschentier-und-tiermensch
+ https://whfb-de.lexicanum.com/wiki/Tiermenschen