Afrika/Ethnologie/Psychologie. Einblicke in faszinierende Grenzbereiche – Hexerei, Fetischismus und die Macht des Schenkens.

Der US-amerikanische Anthropologieprofessor Paul Stoller und seine Frau erzählen in ihrem Buch über die Zeit Stollers im Niger und seiner dortigen Begegnung mit der Zauberei, in deren Verlauf er selber zum Hexer wurde. Ähnliche Erlebnisse hatte der Schweizer Ethnologe David Signer bei seinen Feldforschungen in Westafrika. Beide sehen ihre Erfahrungen kritisch und sind sich der Gefahren bewusst, die die Beschäftigung mit diesem Themenkomplex für Leib und Seele mit sich bringt.

Ganz anders der Journalist Andreas Weber, der in seinem Buch das ganzheitliche Weltbild der indigenen Völker als Chance zur Gesundung der Welt begreift. Ein Exkurs zu Sigmund Freud, der die Ähnlichkeit zwischen Zauberei/Magie und Neurose herausarbeitet, aber einem streng wissenschaftlichen Weltbild verhaftet ist, und zu Wilhelm Reich, der die Existenz übersinnlicher Vorgänge bejaht, runden den Themenkomplex ab.

1. Paul Stoller und Cheryl Olkes: „Im Schatten der Zauberer“

Paul Stoller war in den Jahren 1976 bis 1984 fünfmal für längere Studienaufenthalte im Niger, um die Kultur der Songhai, eine Ethnie im westlichen Afrika, zu erforschen. Die Schilderung seiner Lehrjahre als Zauberer erschien bereits 1987 unter dem Titel „In Sorcery’s Shadow. A Memoir of Apprenticeship among the Shonghay of Niger“ in englischer Sprache. Nun gibt es das Buch auch in deutscher Übersetzung (Piet Meyer Verlag, Bern/Wien, 2019).

Ein Kulturanthropologe lässt sich zum Zauberer ausbilden

Zum ersten Mal bezog Stoller 1976 in einem Songhai-Dorf im Niger Quartier, um ethnologische Feldstudien zu betreiben. Humorvoll beschreibt er das Scheitern seines ersten Versuchs, mittels eines von ihm entworfenen Fragebogens die Fremdsprachenkenntnisse der Dorfbewohner zu eruieren. Sie haben ihn einfach belogen, so Stoller, aus Höflichkeit.

Mit seiner Fragebogenaktion gescheitert, beschließt Stoller, der Songhai-Sprache mächtig, zunächst als stiller Zuhörer an Gemeinschaftszusammenkünften teilzunehmen. Er will so das Vertrauen der Dorfbewohner gewinnen. Die wirkliche Aufnahme in die Dorfgemeinschaft gelingt ihm jedoch erst, als er ein Kind, das ihn lange provozierte, kräftig ohrfeigt: „Jetzt hast du gehandelt und bist zu einem der unseren geworden“. Schon hier zeichnet sich ab, dass Stollers Zugang in das Reich der Songhai-Hexerei über den Weg von Gewalt und Macht führt.

Der zwielichtige Djibo, ein Magier-Heiler, nimmt Stoller unter seine Fittiche und lässt ihn in nächtlichen Lektionen Beschwörungsformeln auswendig lernen. Stoller gerät in einen Zwiespalt: Wenn er diese Grenze überschreitet und sich zum Hexer ausbilden lässt, gibt er seinen Standpunkt als objektiv beobachtender Forscher auf. Größer als seine Angst vor den Gefahren, die diese Grenzüberschreitung beinhaltet, ist sein Wunsch nach Macht.

Der Leser wird mit den verschiedenen magischen Ritualen vertraut gemacht, die Stoller auf seinem Weg der Hexerausbildung erfährt. Stoller lernt die Herstellung von pflanzlichen, außergewöhnliche Kräfte verleihenden Heil- und Zaubermitteln, kommt während seines Initiationsrituals in den Genuss von Sorko-Speisen (Sorko nennen sich die Zauberheiler der Songhai), erlernt mittels Kaurimuscheln wahrzusagen. Ein anderer Zauberer bringt ihm bei, wie man Hexen am Geruch erkennt, wie man böse Geister mit Huhn- und Schafopfern besiegt und welche Beschwörungsformeln Menschen in Blätter, Käfer oder Kuhdung verwandeln. Er schließt Bekanntschaft mit den Gottheiten der Songhai und lernt, dass es bei Beschwörungsformeln nicht auf den Text ankommt, sondern der Klang der gesprochenen Worte das Wichtige ist.

Die Hexer erzählen von ihren übernatürlichen Kräften, die sie aus der Vergangenheit, von ihren Ahnen, beziehen und die es ihnen ermöglichen, in einen Fluss zu steigen, ohne nass zu werden, an andere Orte zu fliegen und Feinde zu besiegen.

Stoller wohnt Besessenheitstänzen, Wahrsagungen und Geisterheilungen bei. Schließlich wendet er die erlernten Künste selbst an, um einen missliebigen Europäer aus dem Land zu vertreiben. Zu seinem Erstaunen ist er mit seiner Hexerei erfolgreich und erschrickt, als ihm ein Freund erklärt: „Ich habe Angst vor dir und deinem Geist, Monsieur Paul. Du bist ein harter Mann mit viel Gewalt tief in deinem Herzen.“

Immer wieder ist für Stoller wichtig, „seine Härte und sein Durchhaltevermögen“ zu beweisen, auch wenn er dafür an seine körperlichen und psychischen Grenzen geht. Sein großes Thema ist der Besitz von Macht. Auch als sich Stoller den Unmut anderer Hexen zuzieht und von übernatürlichen Gefahren bedroht sieht, kann ihn dies nicht davon abhalten, seine Hexerausbildung fortzusetzen.

Als Stoller in Begleitung seiner Frau Cheryl 1984 zum letzten Mal die Songhai besucht, ist er überzeugt, dass ihn die Magierin Kassey verhext hat. Als es ihm körperlich immer schlechter geht, verlassen er und seine Frau fluchtartig das Songhai-Dorf.

Stoller schreibt: „Zauberei ist eine Metapher für jenes Chaos, das alle sozialen Beziehungen bestimmt. In allen Gesellschaften bröckeln Dinge und werden neu zusammengesetzt; wir leben alle im Schatten der Zauberei.“

Wer sich von Stollers Buch eine Anweisung für das Hexen erwartet, wird enttäuscht. Als echter Hexer gibt er sein Wissen natürlich nicht preis. Dafür beschreibt das Buch anschaulich, wie Stoller immer mehr in den Bann der Songhai-Kultur und ihres magischen Hexenkults gerät. Der heute 72-jährige bekennt, noch immer die erlernten Praktiken anzuwenden.

Stoller verzichtet in seinem Buch fast vollständig auf den Versuch, das Erfahrene wissenschaftlich und intellektuell einzuordnen. Vielleicht, weil dies nach einem gewissen Punkt der Grenzüberschreitung auch nicht mehr möglich ist.

Ganz ohne Zweifel, Stoller glaubt an die Hexerei und an die Macht, die sie über Menschen ausüben kann. Er ist von dieser Macht fasziniert und verweigert sich trotzdem einige Male dem in der afrikanischen Kultur tief verankerten Geben und Schenken. Dass er sich damit und auch mit seinem stark ausgeprägten Willen zur Macht bei anderen Hexern und Hexen unbeliebt macht, scheint schlüssig. Inwieweit konnte er als Ethnologe auf ihr Einvernehmen zählen bei dem Versuch, ihnen in die Karten zu schauen und Teil ihrer Welt zu werden?

Stoller ist der Überzeugung, dass viele seiner Kollegen und Kolleginnen ähnliche Erfahrungen machten, sich aber scheuen, darüber zu sprechen, um in der akademischen Welt nicht diskreditiert zu werden.

David Signer rezensiert Paul Stollers „Im Schatten der Zauberer“

Die Neue Züricher Zeitung veröffentlichte im Oktober 2019 eine Rezension von David Signer zu Stollers Buch „Im Schatten der Zauberer“.1 Auch Signer verließ Afrika panikartig, als ihm „das Thema über den Kopf wuchs und ich jede Nacht von Alpträumen geplagt wurde“. Und auch Signer wandte das Gelernte an und zauberte den gestohlenen Schmuck seiner Frau wieder herbei. „Wie Stoller hatte ich das Gefühl, in eine Welt einzutreten, wo Moral durch okkulte Stärke und Macht ersetzt wird.“

Signer ist überzeugt, dass er, schon wieder zurück in der Schweiz, durch Zauberei lebensbedrohlich erkrankte. Mit letzter Kraft reiste er nach Mauretanien, hatte dort mit Lähmungen und Geisterstimmen zu kämpfen, floh an einen einsamen Ort, begab sich unter den Schutz seines magischen Silberrings und gesundete.

Noch heute besuche ihn in seinen Träumen sein ehemaliger Lehrer und mache ihm Vorwürfe, dass er die Zauberei aufgegeben habe. Sein Resümee: „Ich akzeptiere, dass wir vom Unbekannten umgeben sind.“

2. David Signer: „Die Ökonomie der Hexerei oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt“

Eine gute Ergänzung zu Stollers „Im Schatten der Zauberer“ ist das Buch des Schweizers David Signer „Die Ökonomie der Hexerei oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt“ (Edition Trickster, 2004 Peter Hammer Verlag). Während Stoller auf theoretische Einordnungen so gut wie ganz verzichtet, geht Signer von einem westlich-calvinistisch-kapitalistisch geprägten Weltbild aus, das im strengen Gegensatz zu afrikanischen Denkmodellen wie dem Fetischismus und einer Kultur des Gebens steht.

Signer führte in den Jahren 1994 bis 2000 in den Ländern Elfenbeinküste, Mali, Burkina Faso, Guinea und Senegal Feldforschungen zum Thema Hexenglauben mittels „teilnehmender Beobachtung“ durch. Auch er geht den „faustischen Pakt“ ein und begibt sich als Forscher in Situationen, in denen er selbst Bestandteil der zu untersuchenden Phänomene wird. „Der Hexenglaube lässt sich nicht untersuchen, wenn man nicht bereit ist, in den Situationen, in denen er sich äußert, und in der Rede, die ihn zum Ausdruck bringt, mit eingeschlossen zu werden.“ Trotz aller Grenzüberschreitungen ist Signer anders als Stoller in seinem Buch immer um eine theoretische Einordnung der erfahrenen Phänomene bemüht, die aus dem Blickwinkel eines schweizerischen Calvinismus erfolgt.

Erfahrungssuche in der Hexerwelt

Am eindrücklichsten an Signers Buch ist nicht der theoretische Teil, sondern sein Erlebnisbericht. Signer wird bei seinen Aufenthalten in Westafrika Zeuge ganz ungeheuerlicher Ereignisse: Ein Huhn wird durch die bloßen Worte eines Mannes getötet; ein anderer lässt Papier in seinem Mund verbrennen und reibt sich den nackten Oberkörper mit einer Fackel ein, um danach an einem glühenden Scheit zu lecken. Signer ist dabei, wenn Kaurimuscheln besprochen oder das Sandorakel befragt wird; er lernt, dass es Fluss- und Waldgeister gibt, deren Lieblingsfarben weiß und gelb sind und der „Zauberstaub“ Kaolin bei Schmerzen und Malaria wirkt. Er macht die Bekanntschaft von Fetischen, die mit in einer Geisterstimme sprechen, ob in Form einer Kalebasse oder einer Dose. Signer hört Erzählungen von Zauberern, die mittels Magie in einer Nacht an weit entfernte Orte und wieder zurück reisen. Er nimmt teil an Ritualen zu Heilung und Wahrsagung und ist zu Initiationsriten von Magiern eingeladen.

Der Fetischeur Coulibaly wird Signers erster Lehrer. Er vermittelt Signer, wie relativ Gut und Böse sind, denn was des einen Schaden, ist des andern Freud. Und wird eine Verhexung aufgehoben, kann die Hexe selbst zum Opfer werden. Deshalb sollte man die Hexe oder den Geist um die Freigabe des Menschen bitten und ihm als Gegenleistung ein Opfer bringen. Hühner, die Farbe der Federn spielt eine Rolle, oder Schafe, aber auch Eier werden gefordert. Der Heiler bezieht sein Wissen aus einer anderen Dimension, die dem Kranken selbst nicht zugänglich ist, und bedient sich häufig eines Fetischs, das heißt, er arbeitet mit einer Figur, die einen Geist beherbergt. Als Fetische dienen häufig Holzfiguren, aber auch Fliegenwedel, die ihre magische Wirkung erst durch die Besprechung mit Zauberformeln erlangen.

Signer schildert lebendig seine Erlebnisse mit traditionellen Heilern, den Fetischeuren, traditionellen Musikanten, den Griots, mit Zauberjägern, den Dozos, mit islamischen Heiligen, den Marabuts, und mit Schmieden, denen auch magische Kräfte nachgesagt werden.

Durch die Bekanntschaft mit der Heilerin Clementine erfährt er, dass man als Heilerin eine Affinität zum Bösen haben muss. Als Kind von den Geistern in den Busch verschleppt, spricht Clementine von realen Kontakten zu Teufeln, Engeln und Geistern, die mit ihr sprachen und sie berührten.

Zwei Buchstellen berühren besonders: Die Beschreibung einer Zeremonie, an der die ganze Dorfgemeinschaft teilnimmt, um aus einem schwer kranken Kind die bösen Geister auszutreiben. Signer schreibt: „Wie mager, ärmlich, eindimensional und geizig wirken demgegenüber unsere Therapien, sowohl die medizinischen wie die psychologischen! War es nicht, als ob hier die ganze Gemeinschaft dem gefährdeten Kind zurief: ‚Wir lassen dich nicht gehen, wir lassen dich nicht sterben‘? Plötzlich war ich so berührt und bewegt, dass ich fast in Tränen ausbrach.“
„Die traditionellen Heiler und Heilerinnen ‚machen‘ immer auch etwas mit dem Kranken, und zwar auf einer konkreten, sinnlichen, körperlichen Ebene.“ Sie berühren, waschen und spucken.

Beeindruckend auch die Beschreibung der Initiation einer jungen Heilerin. Nachdem sie Wochen allein in der Wildnis mit Geistern verbrachte, kommt sie in Trance in die Dorfgemeinschaft zurück. „…man sah eine abgemagerte, ausgezehrte Frau unbestimmten Alters auftauchen, nur notdürftig mit einem rohen Tuch um die Hüfte bekleidet, mit struppigem, langem Haar, unaufhörlich von andern mit Kaolin beworfen. Als sie näher kam sah ich ihren völlig weggetretenen Gesichtsausdruck, die leeren und meist geschlossenen Augen, die nichts wahrzunehmen schienen von all dem, was um sie herum vorging. Eine Mischung aus vollgepumpter Fixerin, Akutpsychotikerin auf der geschlossenen Station und Furcht einflößendem Geist aus einer anderen Welt. Auch ihre eckigen, abgehackten Bewegungen waren offensichtlich nicht von ihr selbst dirigiert, sondern von einer fremden Macht ferngesteuert. Clémentine meinte später zu mir: ‚Hast du nicht in diesem Moment gespürt, dass es wirklich Geister gibt‘? Auf jeden Fall spürte man die Präsenz von etwas sehr Seltsamen, Andersartigem, und die Novizin selber schien so besessen und von so weit her zu kommen, dass sie fast nicht mehr menschlich war. Unheimlich wie eine Puppe, die sich plötzlich bewegt. Sie wurde kiloweise mit Kaolin überschüttet, während sie ihren ungelenken Tanz vorführte und schien unwirklich wie ein weißes Gespenst.“ Die im Buch veröffentlichten Fotos der Heilerin belegen nachdrücklich diese Schilderung.

Viel später erkranken zeitgleich Signers Lehrer Coulibaly und er selbst auf mysteriöse Weise; während Signer todkrank nach Afrika reist und dort genest, stirbt Coulibaly.

Die afrikanische Gesellschaft

Laut Signer bestehe Innerhalb afrikanischer Gemeinschaften ein Zwang zur Mittelmäßigkeit, aus dem auszubrechen innerhalb eines Dorfverbandes so gut wie unmöglich sei.

Unter ‚afrikanischen Humanismus‘ versteht Signer eine Kultur, die ihre sozialen, politischen, ökonomischen und religiösen Vorstellungen in extremer Weise auf direkte zwischenmenschliche Beziehungen gründet. Besonders in den Dörfern käme ein Hyperhumanismus zum Tragen, der den „Sozialdschungel des afrikanischen Alltags“ bestimme: Alles wird geteilt, Kleider, Bett, Essen (paradiesische Nähe). Die Kehrseite davon seien Neid, Eifersucht, Gerüchte, Erpressung, Konformitätsdruck und soziale Kontrolle, die zur individuellen Unfreiheit führten (höllische Nähe). Die Hexe vereinige die Aggressivität der Gemeinschaft auf sich und ermögliche ihr so, sauber und friedlich zu bleiben bzw. Konflikte latent zu halten.

Hexerei, stellt Signer fest, ist ein realer Bestandteil des afrikanischen Alltags, auch wenn sie aus „materialistischer Sicht inexistent“ ist. Im afrikanischen Denken existiere eine unsichtbare Gegenwelt mit Geistern, Hexen, Seelenfressern und Doppelgängern, die im Traumerleben sichtbar werden. Die Traumwelt als ein real existierender Ort: Träumt man von einer Person bedeute dies, die Person habe einen des Nachts besucht. Hexer sind dafür gefürchtet, dass sie Menschen krank machen, sie ihrer Kraft und Persönlichkeit berauben, indem sie das unsichtbare Doppel ihres Opfers fressen. Das Doppel hat seinen festen Platz in der afrikanischen Glaubenswelt. Alles, Menschen, Tiere, Pflanzen und unbelebte Dinge wie Geldscheine, haben Doppelgänger. Hier kann der Hexer ansetzen, um sein Opfer zu schwächen. Und so ist es kein Wunder, dass Signer „Paranoia, Klaustrophobie, Vergiftungsangst und Verhexungspanik hinter dem lächelnden Gesicht der Dorfidylle“ entdeckt.

Signer bezeichnet es als Übertragung im Freud’schen Sinne, als er zum Objekt von Übertragungen wurde, „die mich dazu brachten, Dinge zu fühlen, zu denken und zu tun, die ich sonst unterlassen hätte“. Durch diese Grenzüberschreitungen innerhalb seines Forschungsauftrags erlebte er das eigene Anderssein und konnte das Anderssein des Anderen erfahren. Übertragung und Gegenübertragung bewirkten innere Veränderungen, die zunächst zu einer neuen Sicht, dann zu Verhaltensänderungen führten. Signer verliebt sich in seinen Forschungsgegenstand, um diese Extremform der Übertragung als Instrument für seinen Erkenntnisgewinn einzusetzen: „Ich erkenne das Objekt nur insofern, als es Subjekt – also Teil von mir selbst – wird.“

Die Dualität ist in dieser Welt aufgehoben, es gibt keine Trennung von Innen und Außen, Realem und Symbolischem, Gutem und Bösem. Alles ist mit Affekten besetzt und nur diese zählen. Als Signer Fetischeure in Trance beobachtet und sieht, wie der Fetisch Macht über seinen Erzeuger gewinnt, sieht er den Bezug zu Marx und dessen Feststellung des Fetischcharakters von Waren über ihren Gebrauchswert hinaus belegt.2

Für Signer bleibt „die Hauptfrage, die mir so oft gestellt wird -, glaubst du an Magie und Hexerei? – also auch nach jahrelanger Forschung vor Ort unentscheidbar.“

Die Ökonomie des Gebens

Der Schwerpunkt von Signers Arbeit liegt auf dem ökonomischen Aspekt der Hexerei. Auch Stoller wies auf die Rolle des Neides im Hexenglauben hin, doch bei Signer wird sie zur treibenden Kraft: Dem anderen wird sein Wohlstand nicht gegönnt. Gibt er nicht freiwillig etwas ab, muss er büßen: „Jemand, der hat, aber nicht gibt, zieht Neid und Verhexung an.“ Wohlstand muss geteilt werden: „Man muss für die ärmeren Verwandten sorgen, sonst tun sie dir was an.“ Es gebe deshalb keine Akkumulation von Geld und somit keinen Kapitalismus, der als Wirtshaftmotor dienen könnte.

Signer wird klar, dass es in Afrika nicht ratsam ist, Bitten um Geschenke auszuschlagen, denn man läuft sonst Gefahr, verhext zu werden. Bittet jemand gar ständig um Geschenke, könnte es sich um einen Hexer handeln.

Das Vertrauen der Afrikaner in die Kraft des Gebens findet Signer seltsam. Er hält die afrikanische Ökonomie für eine Ökonomie des Exzesses, denn ruinöse Opfer sollen Reichtum bringen. Die Afrikaner meinten, dass nicht Arbeit, Fleiß oder Leistung reich mache, sondern derjenige, der viel gibt, reich wird. Dies führe zu einer Art „Entwicklungsverweigerung“. Signer schreibt: „In einer Gesellschaft ohne ‚Arbeitsethik‘, die Erfolg auf Glück, Magie oder die Gunst der Götter zurückführt, ist es nur logisch, dass die Früchte dieses Erfolgs geteilt werden müssen und dass die Vorstellung von ‚wohl verdientem Privateigentum‘ wenig ausgeprägt ist.“

Es handle sich um eine Art Nullsummenspiel: Nur indem einer arm wird, kann ein anderer reich werden; nur wenn einer krank wird, kann ein anderer gesund werden; für das Leben muss man töten.

Anders als in der westlichen Kultur gebe es in Afrika keine Idealisierung von Leiden, Armut, Machtlosigkeit, Krankheit. Der Mächtige habe gegenüber dem Schwachen auch keinerlei Schuldgefühl. Er gibt dem Bedürftigen also nicht infolge eines Schuldgefühls, sondern weil Geben zu Reichtum führt. Im psychoanalytischen Sinn schließt Signer daraus, dass es für den Afrikaner keine Möglichkeit gebe, den „unerträglichen Neid“ auf den Besitzenden abzuwehren, der deshalb im Verhexen ausgelebt werde.

Andererseits gebe es auch keine Schuldgefühle bei Verschuldung, die als normal betrachtet wird. Die Annahme von Krediten oder Entwicklungshilfe sei nicht peinlich und eine Gegenleistung könne nicht erwartet werden, weil es für die Reichen Pflicht ist, an Arme zu geben. Aus dieser Einstellung folgt, dass in Afrika Korruption und Vetternwirtschaft alles andere als verwerflich sind, sondern als selbstverständliche Teilhabe am Wohlstand des anderen durch Vergabe von Posten und Privilegien angesehen werden. „Individualismus ist kein Ideal, sondern ein Schimpfwort in einer Gesellschaft, in der der Mensch horizontal mit seiner Sippe, seinen Ahnen und dem Kosmos verknüpft ist.“ Und die Hexerei wacht über die Wahrung dieser Ordnung: „Das Wertesystem, das durch den Hexereikomplex gestützt wird, ahndet eben Geiz und nicht Verschwendung, Sparen und nicht Protzen.“

Signer stellt fest: „Die Wirklichkeit ist konstruiert; aber das heißt, dass das Konstruierte wirklich ist“ und verweist auf Geldscheine, die nur ein Papierfetzen sind oder auf die Finanzwirklichkeit an den Börsen, die auch auf quasi magische Art Geld vermehren. Die fehlende Grenzziehung zwischen Religiösem und Weltlichem mache sich besonders in der Politik bemerkbar. Nur wenn jemand dazu ausersehen ist, könne er Macht ausüben.

Afrikas Geistesleben: eine Welt voll Macht, Gewalt und Geiz oder Rettung für den Westen?

Beide Autoren, Stoller und Signer, sind zwar von der afrikanischen Denk- und Glaubenswelt fasziniert und suchen sie nicht nur intellektuell zu durchdringen, sondern sich auch gefühlsmäßig auf sie einzulassen, gleichzeitig stehen sie ihr mit größter Skepsis gegenüber und beurteilen sie kritisch, als eine Welt, in der Macht und Gewalt beziehungsweise Geiz übergroße Rollen zukommen.

Ganz anders der Ansatz von Andreas Weber, der in der sogenannten Indigenialität von Naturvölkern die Rettung für unsere kaputte westliche Welt sieht.

3. Andreas Weber: „Indigenität“

Das Büchlein von Andreas Weber erschien 2018 in der Reihe „Tugenden für das 21. Jahrhundert“ bei Nicolai Publishing & Intelligence GmbH Berlin.

Für Weber, der an der Universität der Künste in Berlin lehrt, ist die Übernahme des ganzheitlichen Weltbildes der Indigenen eine Möglichkeit, der Zerstörung der Welt entgegenzutreten. Wenn Stoller und Signer in den afrikanischen Gemeinschaften und ihrem Animismus Gewalt, den Willen zur Macht und Neid erkannten, könnte es sich schlichtweg um die Projektion von Eigenschaften handeln, die das westliche Wertesystem des Kapitalismus ihren Psychen einbrannte. Webers Buch sei deshalb als Ergänzung der Ansätze von Stoller und Signer angeführt, da die von ihnen besuchten Dorfgemeinschaften kaum von westlicher Denkart berührt sind.

Webers Wortschöpfung „Indigenialität“ setzt sich zusammen aus „indigen“ und „genial“, letzteres im Sinne von Geist, Seele, innerer Stimme, die uns leitet. Laut Weber hat unsere Zivilisation nicht nur die indigenen Völker, deren Denken und Kultur kolonialisiert, sondern auch unser eigenes Denken. So wurde das Indigene zum „unterdrückten Teil unseres eigenen echten Menschseins“. Doch auch wenn wir das Indigene in uns verdrängt haben, seien wir im Grunde unseres Seins doch alle Wilde geblieben. Der westliche Mensch müsse den Dualismus überwinden, und wieder die indigene „Welt der Nicht-Trennung“ denken.

Weber kritisiert das abendländische Denken als die „intellektuelle Vereinnahmung der Welt“, als „allerbrutalste Inbesitznahme“ und „Erbe eines unerbittlichen Kolonialismus der Herzen“. Es beruhe auf dem Konzept der unauflösbaren Gegensätze: von Natur und Kultur, Subjekt und Objekt, Innen und Außen, Materie und Mensch. Dagegen löse Indigenität diese Gegensätze auf und ließe die verschiedenen Systeme nebeneinander bestehen.

Streng geht Weber mit einem Menschenbild ins Gericht, wie es der englische Philosoph Thomas Hobbes 1651 in seinem Buch „Leviathan“ entwarf und das den „Naturzustand“ des Menschen von Gewalt diktiert sieht; nur durch einen Gesellschaftsvertrag könnten Gewalt und Chaos eingehegt werden.

Dagegen stellt Weber den brasilianischen Ethnologen Eduardo Viveiros de Castro, der die Arroganz des universitären westlichen Denkens mit seiner Herrschaft der Ratio kritisiert und die Dekolonisation unserer Seelen und unseres Denkens fordert. Denn die fundamentale Form von Gewalt bestehe darin, die Wirklichkeit nicht so erleben zu dürfen, wie sie ist.

Weber schreibt: „Praktisch in ganz Afrika ist die ursprüngliche Kultur der Teilhabe durch Sklavenhandel und koloniales Erbe zerstört und, was vielleicht noch tragischer ist, von der Bevölkerung weitgehend verdrängt worden. Dieser Identitätsverlust ist in seiner traumatischen Wirkung mit dem Zustand eines Menschen zu vergleichen, der seine seelische Identität verloren hat.“

Auch die Selbstherrlichkeit der Kirchen sei ein Gewaltakt; im Verlauf der Christianisierung sei die Indigenität der europäischen Bevölkerung zerstört worden ebenso wie „das Verhältnis der Gegenseitigkeit zur umgebenden Natur und ihren Kräften“. Weber plädiert dafür, auch andere Denk-, Erklärungs- und Lebensmodelle als Wirklichkeit anzuerkennen.

Wie auch Stoller und Signer erkannten, ist die Welt der Kosmologie der Indigenen nicht mit den Mitteln der Wissenschaft zu durchdringen, während in der Welt der Indigenen Wirklichkeit immer zugleich echt und Phantasie sei. Die „scheinbaren Seltsamkeiten anderer Kulturen“ seien nicht nur zu tolerieren, sondern „als eine Spielart des Wirklichen zu sehen, an denen wir selbst teilhaben können.“ Auch die „nichtmenschlichen Partner der Wirklichkeit“ müssten wieder solidarisch miteinbezogen werden. Der Kontakt mit der Wirklichkeit präge die Tiefenvorgänge unseres Körpers und unserer Kognitionen sowie unsere schöpferischen Prozesse.

Weber bezieht sich auf Frantz Fanons Werk „Die Verdammten der Erde“ und setzt Kolonialismus in Beziehung zu Rassismus: Der Mensch wird zum Objekt, ihm werden bestimmte Dimensionen des Menschseins abgesprochen. Der Mangel an eigener Menschlichkeit wird in den anderen projiziert. Dem zugrunde liege ein „tiefgreifender Narzissmus“.

Wo die gesamte Welt als Seele erlebt wird, bewohnen Geister und Gottheiten Berge, Bäume und Gewässer. Indigenes Denken bedeute, dass alles belebt ist und der Mensch diese Belebtheit durch Fühlen, Intuition und Träume wahrnehmen kann. „Wollen wir Realisten sein, müssen wir Animisten werden, denn die Welt ist in Wahrheit animiert. Diese Beseeltheit verbindet uns Menschen mit allem.“ Der Zugang zur Wirklichkeit sei nicht nur durch Beobachtung, sondern auch durch Gefühl und Intuition möglich. Kosmologie als die emotionale Erfahrung, in einer seelischen Verbindung mit anderen zu sein, sei eine menschliche Grundausstattung: „Die reale Welt ist ein Innen, eine Welt der Beziehungen, Geschichten und Regeln, die sich mit dem Körper, durch Teilnahme, erfahren lässt.“

In der indigenen Welt herrsche radikale Demokratie; es gebe keine Obrigkeit, das Zusammenleben sei durch Gemeinschaft und Gegenseitigkeit geprägt, alles werde geteilt und verteilt, alle entscheiden gemeinsam mit Unterstützung eines Rates erfahrener Gemeinschaftsmitglieder. Die gegenseitigen Austauschprozesse seien grundsätzlich Geschenke, „die Energie der Gabe macht den Kosmos fruchtbar“.

Auch Weber kennt die „Obsession des Schenkens“, anders als Signer sieht er darin das positive Potential. Und so setzt Weber der „Ökonomie der Hexerei“ die „Ökonomie der Gabe“ entgegen, bei der Privatbesitz keine Rolle spiele, sondern „Großzügigkeit zugleich ein moralischer und ein materieller Imperativ“ sei. Reichtum bedeutet, soviel zu haben, dass man es weggeben kann. Schenken heißt, mit jedem der bedürftig ist, zu teilen, bedeutet auch, ein Beziehungssystem zu erstellen. Ökonomie wird zur Ökologie. Behalten stelle einen Verrat am Kosmos dar, denn Leben heiße, die Welt als Gabe zu erfahren. „Ökologische Gegenseitigkeit ist in ihrer Erfahrung sozial.“

Der Gegensatz zum westlich-kapitalistischen Denken, bei dem alles verdient und erarbeitet sein muss, könnte krasser nicht sein.

Laut Weber sollten wir „dem großzügigen Kosmos durch unsere Großzügigkeit Ehre erweisen, um den Kreislauf der Geschenke nicht zu unterbrechen“. Nur wenn der Andere gedeihen kann, kann auch das eigene Selbst gedeihen. Und so bestehe unsere Chance in der „seelischen Dekolonialisierung“, denn „wildes Denken“ leite die Liebe.

Schenken versus Leistung

Legt man die Theorie Webers zugrunde, ist es nur folgerichtig, dass Stoller und Signer bei ihrer wissenschaftlichen Mission mit ihren Vorbehalten bezüglich des Systems des Gebens und der Großzügigkeit an ihre Grenzen gerieten. Ihre Mission konnte nur so weit erfolgreich sein, als sie zur Grenzüberschreitung bereit waren, zum „Wilden“ wurden. Den letzten Schritt konnten sie nur verweigern.

4. Sigmund Freud: „Totem und Tabu – Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und Neurotiker“

Da Sigmund Freud im 20. Jahrhundert maßgeblich das psychologische westliche Denkmodelle prägte und Freud sich intensiv mit „Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken“ beschäftigte, sei hier in einem kurzen Exkurs auf seine Schrift Totem und Tabu (1912 – 13) eingegangen.

Signer weist in seinem Buch bereits darauf hin, dass Bestandteile des Hexenglaubens eine enge Verbindung zur Freud’schen Psychoanalyse aufweisen. Dies findet Ausdruck in der Deutung des Unbewussten, wie es sich beispielsweise in Träumen äußert. Hexerei selbst könne laut Signer als „destruktive Übertragung“ verstanden werden.

Freud selbst sah die „Natur- und Weltauffassung“ primitiver Völker mit ihrer „Unzahl geistiger Wesen“ als die anfängliche Vorstufe der menschlichen Entwicklung auf dem Weg zur modernen Wissenschaftserklärung der Welt. Er gesteht dem Animismus zu, ein Denksystem zu sein, dass es gestatte, „das Ganze der Welt als einen einzigen Zusammenhang, aus einem Punkte, zu begreifen“. Der Animismus sei als Ideenwelt die „folgerichtigste und erschöpfendste, eine, die das Wesen der Welt restlos erklärt“ und noch in der Gegenwart im Aberglauben, in der Sprache, im Glauben und in der Philosophie nachweisbar ist.

Laut Freud habe die Menschheit insgesamt drei große Weltanschauungen hervorgebracht: die animistische, die religiöse und die wissenschaftliche. „Im animistischen Stadium schreibt der Mensch sich selbst die Allmacht zu; im religiösen hat er sie den Göttern abgetreten, aber nicht ernstlich auf sie verzichtet, denn er behält sich vor, die Götter durch mannigfache Beeinflussungen nach seinen Wünschen zu lenken. In der wissenschaftlichen Weltanschauung ist kein Raum mehr für die Allmacht des Menschen, er hat sich zu seiner Kleinheit bekannt und sich resigniert dem Tode wie allen anderen Naturnotwendigkeiten unterworfen.“ Ein Rest des primitiven Allmachtglaubens lebe allerdings immer noch in ihm weiter.

Freud sieht nicht nur in der Religion und im Aberglauben Reste aus dieser Vorstufe der „Welterklärung“, sondern auch in den Krankheitsbildern der Zwangsneurose und Paranoia. So stehe bei der Zwangsneurose die angenommene Allmacht der Gedanken nicht in Übereinstimmung mit der äußeren Realität. Zwangshandlungen seien „durchaus magischer Natur“ und dienten „zur Abwehr der Unheilswahrnehmung“. Freud beobachtet, wie „Schutzformeln der Zwangsneurose ihr Gegenstück in den Zauberformeln der Magie“ finden. Er schreibt, dass „seelische Vorgänge einer Person, Vorstellungen, Erregungszustände, Willensimpulse sich durch den freien Raum auf eine andere Person übertragen können, ohne die bekannten Wege der Mitteilung durch Worte und Zeichen zu gebrauchen“.

Freud trennt begrifflich Zauberei und Magie. Zauberei sei die Kunst, die Geister zu beeinflussen, indem man sie „beschwichtigt, versöhnt, sich geneigt macht, sie einschüchtert, ihrer Macht beraubt, sie seinem Willen unterwirft, durch dieselben Mittel, die man für lebende Menschen wirksam gefunden hat.“ Dagegen werden mittels der Magie „die Naturvorgänge dem Willen des Menschen unterworfen, das Individuum gegen Feinde und Gefahren geschützt und ihm die Macht gegeben, seine Feinde zu schädigen.“ Beispiele seien Regen- und Fruchtbarkeitszauber mittels Imitation: Der Zauberer versprüht Wasser, um Regen zu erzeugen. Eine andere Technik der Magie besteht darin, ein Ebenbild vom anderen anzufertigen, beispielsweise eine Puppe, der man anstelle des anderen etwas antut. Oder „man bemächtigt sich seiner Haare, Nägel, Abfallstoffe oder selbst eines Teiles seiner Kleidung und stellt mit diesen Dingen etwas Feindseliges an.“ Möglich sei dies auch, indem man den Namen einer Person benutzt oder auch ihr Bild, um Macht über diese Person zu erlangen. Freud sieht darin eine Beziehung hergestellt zwischen zwei Ereignissen oder Gegenständen, die räumlich und zeitlich unmittelbar benachbart sind, eine Kontiguität. Da Ähnlichkeit und Kontiguität die „beiden wesentlichen Prinzipien der Assoziationsvorgänge sind, stellt sich als Erklärung für all die Tollheit der magischen Vorschriften wirklich die Herrschaft der Ideenassoziation heraus.“ Das eigentliche Wesen der Magie sei aber das „Missverständnis“, „psychologische Gesetze an die Stelle natürlicher“ zu setzen und damit seelische Vorgänge zu überschätzen. Das Denken werde über die Realität gestellt.

Die magische Welt setze sich telepathisch über räumliche Entfernungen hinweg und auch über die verschiedenen Zeitebenen. Das Prinzip der „Allmacht der Gedanken“ regiere die Magie, d.h. die animistische Denkweise. Im Animismus werde ein Teil dieser Allmacht der eigenen Gedanken an Geister abgetreten, die aber nichts anderes als Projektionen der eigenen Gefühle seien. Innerpsychische Vorgänge fänden sich so in der äußeren Welt wieder. Der Paranoiker könne sich so durch Projektion seiner innerpsychischen Konflikte entledigen.

Freud sieht eine enge Verbindung von magischem Denken und Zwangsneurosen, da auch bei letzterem das Denken für die Symptombildung maßgeblich sei und die Gedanken nicht mit der äußeren Realität in Übereinstimmung sein müssten. Das habe auch mit Aberglauben zu tun, zum Beispiel wenn jemand glaubt, dass böse Wünsche in Erfüllung gehen könnten. Neurotische Zwangshandlungen seien magischer Natur. „Auch die Schutzformeln der Zwangsneurose finden ihr Gegenstück in den Zauberformeln der Magie.“

Wie bei Zauberern ist auch bei Freud der Traum von zentraler Bedeutung, um innerseelische Vorgänge aufzuspüren. Im Traum können falsche Zusammenhänge hergestellt werden, wenn die richtigen aus bestimmten Umständen nicht erfasst werden können, wie bei einem unbewussten Wunsch und der Abwehr des selbigen. Dies gelte nicht nur für Träume, sondern auch für Phobien, Zwangsgedanken und Paranoia. In der Traumarbeit könnten diese falschen Zusammenhänge aufgedeckt und richtiggerückt werden.

Nach der Freud‘schen Theorie ist der Mensch nicht Herr im eigenen Hause, sondern allein von den naturwissenschaftlichen Phänomen, seien sie physischer oder psychischer Natur, bestimmt. Im Prinzip schafft er damit ein Menschenbild, das hilflos dieser Natur ausgeliefert ist. Für Krankheiten gibt es Gründe, die innerhalb dieses naturwissenschaftlichen Systems liegen und prinzipiell geheilt werden können, wenn man ihre Mechanismen versteht.

5. Wilhelm Reich – ein ganzheitlicher Therapieansatz

Während Freud nicht an die Möglichkeit des Übersinnlichen glaubt, sondern an die wissenschaftliche Realität, sei hier noch auf den Psychoanalytiker Wilhelm Reich verwiesen, der sich mit Freud überwarf. Reich, der einer erfüllten Sexualität eine zentrale Bedeutung für die psychische Gesundheit zusprach, vertrat einen ganzheitlichen Therapieansatz: Er begriff die gesamte Persönlichkeit als krank. Seine Psychotherapie setzt auf Körpertherapie: Die Charakterpanzerung des Neurotikers, die sich in muskulärer Verspannung äußert, soll aufgebrochen werden.

Auf der Homepage der Wilhelm-Reich-Gesellschaft heißt es: „Reich hebt die Trennung von Forscher und Forschungsgegenstand auf. Nicht ein objektiver Forscher erforscht ein absolutes, unveränderliches Objekt, sondern Forscher und Objekt bilden für ihn eine funktionale Einheit und verschmelzen damit zu einem Gesamtprozess.“3 Damit kommt Reich mit seinen Techniken dem animistischen Fetischeur und Heiler recht nahe. Ein Anliegen Reichs war es auch, Psychoanalyse und Marxismus in Einklang zu bringen.

Neuere Psychotherapieansätze wie Körper- und Gruppentherapien beziehen als heilende Faktoren Berührungen und die Anwesenheit einer Gruppe von Menschen beim Heilungsprozess mit ein.

6. Der Zauber wirkt in uns allen

Besuche bei Heilern, schreibt David Signer, lösten bei ihm intensive Träume aus. Auch bei der Psychoanalyse berichten die Patienten von einer regen Traumtätigkeit. Durch die Beschäftigung mit unbewussten Welten scheint der Animismus in uns zum Leben erweckt.

Es gibt ein menschliches Bedürfnis, an etwas zu glauben, das über die physikalisch erklärbare Welt hinausreicht. Einen Teil dieser Bedürfnisse erfüllen bei uns die Religion und der Aberglaube, ein anderer die Unterhaltungsindustrie, wie die Begeisterung für Fantasyfilme, Horrorschocker und Geisterbahnen sowie die Millionenauflagen von Steven-King-Büchern zeigen. Das „Un-heimliche“ zeigt sich, es wirkt nicht mehr „heimlich“, im Verborgenen, sondern offen, wird sichtbar. Grusel stellt sich ein, die Härchen am Arm stellen sich auf, die Kopfhaut prickelt, Schauer laufen über den Rücken. Wir genießen den Kontakt mit dem Unheimlichen, Übersinnlichen.

Alle Religionen glauben an die Wirksamkeit von Gebeten, die, ebenso wie Zaubersprüche, über Raum- und Zeit hinweg Hilfe bringen sollen. Animistisches Denken ist insbesondere im Katholizismus verwurzelt. Dies zeigt sich im Glauben an Wunderheilungen und Wundertätige wie den süditalienischen Pater Pio, oder bei der Ehrfurcht vor Madonnenerscheinungen, die im Prinzip nichts anderes als Geistererscheinungen sind. Das christlich-katholische Universum ist von Schutzengeln, Teufeln und Dämonen, von guten und bösen Geistern bevölkert, wobei gegen letztere Kreuze, Gebete, Weihwasser und Exorzismus helfen. Und besteht nicht die heilige Dreieinigkeit aus Vater, Sohn und einem nebulösen „Geist“?

Die uns so blutig erscheinende Opferung von Hühnern und Schafen ist in einem afrikanischen Dorf wohl eher eine alltägliche Handlung; Tiere werden zum Verzehr geschlachtet. Wirklich gespenstisch wird es dagegen bei der christlichen Eucharistiefeier, beim Abendmahl, wo ein Priester Wein und Brot in Blut und Fleisch Christi verwandelt, welches sich die Gläubigen anschließend einverleiben. Der Ursprung dieses kannibalischen Opfermahls dürfte in dem Glauben wurzeln, dass mit dem Verzehren auch die Eigenschaften des Opfers, in diesem Fall göttliche, übertragen werden.

Und in der Abteilung Esoterik und Aberglauben kann die bei uns weit verbreitete Homöopathie auch als nichts anderes als Magie bezeichnet werden. In den beliebten Globuli ist das Wirkmittel so stark verdünnt, dass es nicht mehr nachweisbar ist. Eine Zaubermedizin, die wirken soll, ob man daran glaubt oder nicht, und die deshalb auch an Tiere verabreicht wird. Und was für den Afrikaner beim Blick in die Zukunft Kaurimuscheln und Kolanüsse, sind bei uns Horoskope und Tarotkarten.

Eine animistische Annahme besagt, dass es Doppelgänger gibt, dass alles mehrfach existiert. Hier treffen sich moderne physikalische Theorien, die die Existenz von Paralleluniversen postulieren, mit den Vorstellungen der Hexer in westafrikanischen Ländern. Frank Schätzing hat diese modernen physikalischen Theorien in seinem Sience-Fiction-Roman Die Tyrannei des Schmetterlings auf spannende Weise thematisiert; Theorien, die schon in der Antike als philosophisches Thema diskutiert wurden.

Die von Signer festgestellte Tyrannei der Familie und des Dorfes, die den gesellschaftlichen Aufstieg eines Individuums innerhalb der Gemeinschaft praktisch unmöglich macht, findet sich auch in unserer Gesellschaft, wenn auch versteckter. Man denke nur an Didier Eribons Buch „Rückkehr nach Reims“, in dem er beschreibt, wie es ihm nur durch die Loslösung von seinem proletarischen Elternhaus und seiner Flucht nach Paris möglich war, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Es muss nicht die Hexe sein, die kastrierend wirkt, sondern das können auch die gesellschaftlichen Verhältnisse sein. Und es muss nicht immer negativ, sondern kann sogar förderlich sein, sich gegen Hindernisse durchzusetzen zu müssen.

Ein wichtiger Aspekt des afrikanischen Gemeinschaftslebens ist Großzügigkeit und die Ächtung von Neid. Unsere europäische Kultur ist vom Christentum geprägt, in dem Neid zu den sieben Todsünden zählt, Geben seliger denn Nehmen ist und eher ein Kamel durchs Nadelöhr passt, als dass ein Reicher in den Himmel kommt und die Letzten die Ersten sein werden. Eine der vier Hauptsäulen des Islam ist das Geben von Almosen. Unser Mitgefühl und unsere Solidarität sind grundlegende Bestandteile des menschlichen Miteinanders. Teilen ist die wichtigste Überlebensstrategie einer Familie, einer Sippe, eines Stammes. Denn durch einen Schicksalsschlag kann der heute noch im Wohlstand lebende schnell in die Armut gedrängt werden. Gegenseitiges Helfen ist der Reichtum der Armen, derjenigen, die nicht durch Wohlstand oder durch ein funktionierendes Sozialsystem gegen die Unbillen des Lebens geschützt sind.

Ein Afrikaner sagt zu Signer: „All die Katastrophen bei Euch, Überschwemmungen, Tornados, Schneestürme, Flugzeugabstürze, Tankerunglücke, all das rührt daher, weil ihr die Geister der Luft, des Meeres und der Winde nicht anbetet und keine Opfer darbringt. Dann haben die Wassergeister Hunger, und ein ganzes Schiff mit hundert Menschen geht unter.“ Dieser Afrikaner hat recht: Sollte die ganz große Katastrophe eintreten, durch einen Atomkrieg oder ein aus den Fugen geratenes Klima: Die westliche Zivilisation in ihrer Technikabhängigkeit wäre komplett zerstört, während die Überlebenschancen bei den Menschen in Afrika lägen.

Der Zauber wirkt in uns allen. Wir alle sind Zauberer und lassen uns bezaubern, am sichtbarsten in der Liebe. Und sind wir nicht alle Fetischeure? Sind nicht die Buchstaben, die jeder Schreiber benutzt, sein ganz persönlicher Fetisch, mit dem es gelingt, Gedanken sichtbar zu machen, sie zu materialisieren, zu konservieren, einen Text zu zaubern, der auf andere eine Wirkung entfaltet?

Können nicht alle drei Systeme nebeneinander bestehen zu lassen, das fetischistisch-hexerische, das religiöse und das naturwissenschaftliche? Nebeneinander und miteinander, sich als eine Wirklichkeit durchdringen. Dem Wilden Platz geben.

1 https://www.nzz.ch/feuilleton/wer-magier-wird-betritt-das-reich-der-angst-ein-erfahrungsbericht-ld.1512404

2 http://copyriot.com/sinistra/reading/fetisch.html

3 https://www.wilhelm-reich-gesellschaft.de/