Rezension. Das neue Buch von Egon W. Kreutzer ‚Spätlese‘ hält, was der Untertitel ‚Hart am Rande des Selbst‘ verspricht. So führt der Autor in seinem Alterswerk als Ich-Erzähler das Gespräch mit dem eigenen Selbst, dem ‚Er‘. Das ‚Ich‘ und das ‚Er‘ wiederum ergeben das ‚Wir‘ – eine fast kafkaeske Reflektion über Bewusstes und Unbewusstes.

In diesem Lesebuch für Philosophen und solche, die es werden möchten, begibt sich Egon W. Kreutzer auf die Suche nicht nur nach dem Baum der Erkenntnis, um davon den einen oder anderen Apfel zu pflücken – denn die Sünde sei die Vorbedingung, aber keinesfalls eine Garantie, des Menschseins –, sondern er möchte gar zu den Wurzeln des Baumes gelangen.

Der „alte weiße Mann“ grummelt und outet sich als „altersweiser Mann“, beobachtet genau, formt kluge Gedanken und zieht häppchenweise – in kurzen Kapiteln, Absätzen, Sätzen – bemerkenswerte Schlüsse. In diesem Werk, in dem es um Geist und Materie geht, in dem Hölle, Gott und Teufel, Riesen und Engel ebenso wie Gewerkschaften und die SPD eine Rolle spielen,  meldet sich natürlich auch Geheimrat Goethe immer wieder zu Wort. 

Der Autor unterteilt seine niedergeschriebene Gedankenwelt in Kapitel, aber auch in Tage und Wochen, dann unterteilt er auch wieder nicht. Er reiht kleine Geschichten, Erinnerungen und Gedankenblitze wie Perlen hintereinander auf, und lässt sich so begleiten ins „lichter Werden der Wörterwolken“, in der „die getöteten Wörter wie Laub von den Bäumen“ fallen.

Erzählfiguren treten aus der Erzählung heraus, werden als nicht-physische Existenzen gesprächig, während andere Romanfiguren sich in ihre einzelnen Buchstaben auflösen.

Der Autor weiß, „Die Krähe sät nicht, die Krähe erntet nicht, die Krähe kräht“. Und doch: Eine Krähe als Dämon, der Geist ist und somit außerhalb der Zeit existiert, überbringt Botschaften, und begleitet abschnittsweise den Leser durch das Werk, So gelangt er über das Murmeltier zum Nacktmull als Ergebnis des perfektionistischen Idealismus. Das muss man erst mal hinkriegen.

Bei der Lektüre eines „kontraphetischen Manifests“ beweist der Autor seinen Sinn für Humor. Er schlussfolgert: „Was dem Adler sein Murmeltier, das ist dem Antifanten sein Kontraphet. So wiederholen sich die Geschichten und beweisen immer wieder nur das Eine: Zeit ist eine Illusion. Eine Illusion, die sich auch durch noch so viele dabei entstehende isolierte Nacktmullpopulationen realiter nicht fassen lässt.“ Punktum. Möchte man anfügen.

Und ist es nicht ein wahrlich irritierender Gedanke, ein Mensch könnte über die Fähigkeit verfügen, sich in jemanden zu versetzen, mit ihm eine Reise in die Vergangenheit zu machen, dort über den Zeugungsakt und die Samenzelle des Vaters in dessen Wesen vorzudringen, von dort wieder den Weg in die Gegenwart zu beschreiten, um so Kontrolle über das Bewusstsein dieses Vaters auszuüben? Dies Idee ließe sich horrormäßig ausbauen.

Philosophische Betrachtungen über Urknall, Gott und Wort fügen sich nahtlos ein in die nicht nur im Rentenalter bedeutungsvolle Erkenntnis: „Heute ist ein wichtiger Tag, denn er ist der erste Tag vom Rest meines Lebens.“ Philosophisch aufgewertet in die Erkenntnis: „Heute ist der wichtigste Tag, denn es ist der erste Tag vom Rest der Existenz des Universums.“

Egon W. Kreutzers Betrachtungen, beispielsweise über Macht, die „zu erhalten immer größeren Aufwand bei immer weiter schrumpfenden Mehrnutzen“ verursacht, oder über „die belebte ‚Biomasse‘ des Planeten, das wahre Wunder, an dem der kleine Mensch zu seiner Zeit die Ehre hat, erkennend teilzuhaben“ – bei fließenden Grenzen zwischen Organisch und Anorganisch versteht sich.

Dies alles kredenzt Egon W. Kreutzer in klarer Sprache, manchmal langen, altmodischen Schachtelsätzen, durch die man sich äuglings hindurchwindet, dann wieder kurz und knackig. Langeweile kann bei dieser Lektüre nicht aufkommen.

Das Buch ist ein kleines Kunstwerk in Form, Sprache und Inhalt, ein Gedankenfeuerwerk, ein Assoziationsfluss, unter Einbezug der aktuellsten politischen Themen. Und ganz zum Schluss, auf den letzten Seiten, darf es dann sogar ein bisschen grotesker Dadaismus sein, mit dem Wolfgang W. Kreutzer den Leser aus seinem Gedankenlabyrinth entlässt.

Und nicht nur „er“, sondern auch der Leser fand, „dass es gut war.“ Und so wartet der Leser auf die unweigerlich nachfolgende „Trockenbeerenauslese“. Und einen „Eiswein“ gäbe es ja auch noch. Bis es soweit ist, kann man ja darüber nachdenken, ob „eigentlich das, was sich zwischen zwei Zwischenräumen befindet, selbst ein Zwischenraum sein“ kann.

Egon W. Kreutzer
SPÄTLESE: Hart am Rande des Selbst
Massel Verlag, 2025, 312 Seiten
22,00 €