Rede des Kaziken Guailcaipuro Cuautémoc am 13. Dezember 2002 auf dem EU-Gipfel in Madrid, zu dem auch indigene Anführer aus Hispanoamerika und der Karibik geladen waren.
„Hierher komme ich. Nachkomme von denen, die Amerika vor 40.000 Jahren bevölkerten, um die zu treffen, die es vor nur 500 Jahren entdeckten. Hier also treffen wir uns. Wir wissen, wer wir sind, und das ist schon viel. Zu mehr wird es nie reichen.
Der europäische Bruder Zöllner verlangt von mir ein beschriftetes Papier mit Visum, um die entdecken zu können, die mich entdeckten. Der europäische Bruder Winkeladvokat erklärt mir, dass Schulden mit Zinsen zurückgezahlt werden, auch wenn es Menschen und ganze Länder sind, die verkauft werden. Auch ich kann Zahlungen und Zinsen einfordern. Im Hispanoamerika-Archiv* befindet sich der Beleg, Papier auf Papier, Quittung auf Quittung und Unterschrift auf Unterschrift belegen, dass allein in den Jahren 1503 bis 1660 rund 185.000 Kilo Gold und 16 Millionen Kilo Silber aus Amerika nach Spanien verschifft wurden.
Plünderung? Nein, das glaube ich nicht! Das hieße ja zu denken, dass die christlichen Brüder gegen ihr Siebtes Gebot verstoßen hätten. Völkermord? Bewahre mich Gott Tanatzin davor, mir vorzustellen, dass die Europäer töten. Das hieße ja, Verleumdern wie Bartolomé de las Casas Glauben zu schenken, die die Entdeckung als die Zerstörung Hispanoamerikas** bezeichnen, oder Ultra-Radikalen wie Arturo Uslar Pietri, der behauptet, dass die Entstehung des Kapitalismus und der gegenwärtigen europäischen Zivilisation durch die Edelmetall-Schwemme ausgelöst wurde!
Nein! Diese 185.000 Kilo Gold und die 16 Millionen Kilo Silber müssen als der Beginn einer ganzen Reihe weiterer freundlicher Leihgaben Amerikas angesehen werden, die für die Entwicklung Europas bestimmt waren. Alles andere hieße, Kriegsverbrechen zu vermuten, was uns berechtigen würde, nicht nur ihre sofortige Rückgabe zu verlangen, sondern auch Entschädigungen für die Nachteile, die uns erwachsen sind und für die erlittenen Zerstörungen.
Ich ziehe es vor, von der weniger offensiven Annahme auszugehen. Solch fabelhafter Kapitalexport war nichts anderes als unsere Hilfe für den Wiederaufbau des barbarischen Europas, das wegen seiner bedauerlichen Kriege gegen die kultivierten Araber, die Begründer der Algebra, der Polygamie, des täglichen Bades und anderer hochwertiger Errungenschaften der Zivilisation ruiniert war.
Deswegen, und anlässlich der Fünfhundertjahrfeier dieser Leihgabe, fragen wir uns: Haben die europäischen Brüder von den Geldern, die ihnen so großzügig vom Internationalen Indo-Amerikanischen Fond zur Verfügung gestellt wurden, auf vernünftige, verantwortungsvolle oder zumindest produktive Weise Gebrauch gemacht?
Leider nicht!
Sie verschleuderten es in der Schlacht von Lepanto, investierten in >unbesiegbare< Armadas, in Dritte Reiche und andere Konstrukte der gegenseitigen Ausrottung, nur um von den Gringo-Truppen der NATO besetzt zu werden.
In finanzieller Hinsicht waren sie unfähig, nach 500 Jahren Moratorium das Kapital, geschweige denn dessen Zinsen zu tilgen. Sie sind bis heute nicht fähig, sich von den Rohstoffen und von der billigen Energie, die ihnen die gesamte Dritte Welt liefert, unabhängig zu machen.
Dieses bedauernswerte Bild bestätigt die Behauptung von Milton Friedman, dass eine bezuschusste Wirtschaft nie funktionieren wird, und es verpflichtet uns zu ihrem eigenen Besten, nur die Rückerstattung des Kapitals und der Zinsen zu verlangen, die wir in großzügiger Weise in Jahrhunderten nicht eingefordert haben. Dabei erklären wir, dass wir uns nicht als so schäbig erweisen werden, 20 oder gar 30 Prozent Wucherzinsen zu verlangen, wie sie unsere europäischen Brüder den Völkern der Dritten Welt abverlangen. Wir beschränken uns darauf, die Rückgabe der geliehenen Edelmetalle zu fordern sowie einen geringen festen Zinssatz von 10 Prozent, und die nur bezogen auf die letzten 300 Jahre. Die Zinsen für die verbleibenden 200 Jahre: geschenkt.
Aus dieser Grundlage und unter Anwendung der europäischen Zinseszinsformel informieren wir unsere Entdecker, dass sie uns für eine erste Rückzahlung 185.000 kg Gold und 16 Millionen kg Silber schulden, wobei beide Zahlen mit 300 potenziert werden müssen. Das ergibt eine Zahl mit über 300 Ziffern, die das Gewicht der Erde bei weitem überschreitet. Wieviel wöge die Schuld, würde sie in Blut aufgewogen?
Der Einwand, Europa habe in einem halben Jahrtausend nicht genügend Reichtum schaffen können, um diese geringfügigen Zinsen bezahlen zu können, kommt dem Eingeständnis seines völligen finanziellen Scheiterns gleich, sowie der wahnsinnigen Irrationalität, auf denen der Kapitalismus gründet.
Werden wir also rational. Wir verlangen nichts weiter, als die Unterzeichnung einer Absichtserklärung, die die verschuldeten Völker des Alten Kontinents zwingt, ihren Verpflichtungen durch eine baldige Privatisierung oder Umstellung Europas nachzukommen, welche es ihnen ermöglicht, uns ihren Kontinent als erste Zahlung der historischen Schuld komplett zu übergeben…“
*Das Archiv hat sich zum Ziel gesetzt, alle selbständigen Veröffentlichungen und heute verstreut vorhandenen Texte aus Anthologien, Zeitschriften und Zeitungen an einem Ort zusammenzuführen und öffentlich zugänglich zu machen. Zu diesem Zweck wird mit allen relevanten Bibliotheken, Universtitäten und Institutionen im In- und Ausland zusammengearbeitet.
**Unter Hispanoamerika oder Spanischamerika werden die Gebiete Lateinamerikas verstanden, in denen der überwiegende Teil der Bevölkerung Spanisch spricht und durch die spanische Kultur geprägt ist.
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Rede auf Spanisch: https://elhistoriador.com.ar/guaicaipuro-cuatemoc-cobra-la-deuda-a-europa/
Mit Dank an Dirk C. Fleck für die freundliche Genehmigung, die Rede von Guailcaipuro Cuautémoc aus seinem lesenswerten Buch „OHGOTTOHGOTT. Markierungen“ übernehmen zu dürfen.
Dirk C. Fleck „OHGOTTOHGOTT“, Tredition Verlag, 224 Seiten, 21,90 Euro
Anmerkung A.G.: Der Vorname von Guailcaipuro Cuautémoc, Guaicaipide, bezieht sich auf Guaicaipide, der im 16. Jahrhundert im heutigen Venezuela – in einer Gegend, in der Gold entdeckt worden war – hartnäckigen Widerstand gegen die spanischen Eroberer leistete.
Zur Thematik der Eroberung von Hispanoamerika im 16. Jahrhundert sei der Roman „Die weißen Götter“ (Eduard Stucken, 1918 bis 1922, ca. 1550 Seiten) empfohlen.
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