Rezension. Schon der Titel des Romans „Die Nebensache“ der palästinensischen Autorin Adania Shibli beschreibt, als was das Leiden und Sterben von Zivilisten in militärischen Konflikten betrachtet wird: als nebensächlich.
Adania Shibli sollte auf der Frankfurter Buchmesse 2023 der LiBeraturpreis verliehen werden. Dies wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.
Das Buch von Adania Shibli besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil beschreibt die Sinneseindrücke eines israelischen Hauptfeldwebels, der, gequält von einem Insektenbiss, nach Kriegsende 1949 in der Hitze der Negev-Wüste mit seinen Soldaten Patrouillenfahrten durchführt. Sie töten eine Gruppe Beduinen mitsamt ihren Kamelen, nehmen eine junge Frau gefangen, vergewaltigen und töten sie. Die völlige Emotionslosigkeit bei der Schilderung der Ereignisse ist verstörend.
Der zweite Teil des Buches beschreibt in Ich-Form die Spurensuche einer jungen, im heutigen Ramallah ansässigen Palästinenserin nach jener Frau, die 1949 ein so schweres Leid ertragen musste. Sie soll keine „Nebensache“ mehr sein, sondern als Mensch sichtbar werden. Da der Todestag der Frau im August 1949 ein Vierteljahrhundert später der Geburtstag der Erzählerin war, sieht sich diese mit der Toten schicksalhaft verbunden. Es beginnt die Suche in israelischen Archiven.
Unaufgeregt und karg, deshalb umso eindringlicher, erzählt der Roman von der klaustrophobischen Situation in einem besetzten Westjordanland. So werden ganz selbstverständlich Fenster geöffnet, als das israelische Militär die Sprengung eines Nebenhauses ankündigt. Die Detonation würde sonst die Scheiben bersten lassen. Auch die im Nachbarhaus getöteten Jugendlichen sind dabei nur eine Nebensache.
Die Erzählerin stößt ständig an Grenzen, die zu überschreiten sind. Nur mit Hilfe eines geliehenen Ausweises, der die richtige Farbe, Blau, trägt, ist es ihr möglich, sich von Ramallah mit einem Leihwagen in Richtung Nirim auf den Weg zu machen. Nirim, der Ort, an dem im August 1949 eine junge Frau Opfer des Krieges wurde, nicht mehr als ein „nebensächliches Detail“.
Nirim war eine von elf Siedlungen, die im Süden, in der Wüste Negev, nahe Rafah an der Grenze zu Ägypten, von jüdischen Siedlern gegründet wurde. Auf dem Weg dorthin, durch die Zonen A, B und C, in die das Palästinensergebiet von Israel aufgeteilt ist, wird die junge Frau bei jeder der zahlreichen Straßensperren und Check-Points von Anspannung und Angst gepackt, gegen die sie ankämpfen muss. Landkarten geben Orientierungshilfe, eine israelische mit dem aktuellen Straßenverlauf, aber auch eine von Palästina vor 1948, in der noch die vielen palästinensischen Dörfer eingezeichnet sind, die inzwischen ausgelöscht und deren Bewohner vertrieben wurden. Beklemmend.
Die Spurensuche verläuft für die Erzählerin frustrierend und der alten „Nebensache“ wird nur eine neue „Nebensache“ hinzugefügt – der allerdings durch die Stimme von Adania Shibli nun eine Innenansicht gegeben wird.
Nebensachen, Grenzen, Panik, Hundegebell, Detonationen, Schüsse und ein Kaugummi – alles, aber kein Leben in „normalen“ Zeiten.
Aktueller könnte das beklemmende Buch von Adania Shibli in einer Kriegszeit, in der sich die „Nebensache“, das Leid von Frauen, Kindern, Zivilisten, ins Unermessliche steigert, nicht sein.
Die Autorin Adania Shibli sollte auf der Frankfurter Buchmesse 2023 den LiBeraturpreis erhalten. Die Preisverleihung wurde verschoben. Die Bühne blieb leer. Das Leid der Zivilbevölkerung – eine Nebensache.
Adania Shibli wurde 1974 in Palästina geboren und lebt in Palästina und Deutschland. Sie ist in akademischer Forschung und Lehre tätig. „Eine Nebensache“ ist ihre erste Buchveröffentlichung.
Adania Shibli, „Eine Nebensache“, Roman, Verlag Berenberg, 117 Seiten